«A Forgotten Man»: Der Gesandte und die Toten
Ein Spielfilm zeigt die banale Geschichte des Schweizer Gesandten im Nazireich als tiefschürfende Tragödie. Zu viel der Ehre für einen Opportunisten?
Der ehemalige Gesandte Hans Frölicher, Minister der Eidgenossenschaft bei der Regierung Adolf Hitlers, starb 1961 in Bern, ohne dass er irgendwie zur Verantwortung gezogen worden wäre.
Frölicher hatte als Diplomat die schweizerische Anpassungspolitik gegenüber dem «Dritten Reich» vertreten und mitgeprägt. Schon seine Ernennung 1938 wurde von linken Schweizer Zeitungen – die es damals noch zahlreich gab – heftig kritisiert. Er galt als treuer, aber nicht sehr fleissiger Diener der beiden rechtskonservativen Schweizer Aussenminister Giuseppe Motta und Marcel Pilet-Golaz: Bundesrat Motta begrüsste 1938 Österreichs Annexion durch Hitler und drückte gegenüber dem deutschen Gesandten in Bern seine Bewunderung für dieses «weltgeschichtliche Ereignis» aus. Bundesrat Pilet-Golaz hielt im Sommer 1940, nach der Niederlage Frankreichs, eine bis heute berüchtigte, anpasserische Radiorede und musste Ende 1944, als Deutschland auf dem Weg war, den Krieg zu verlieren, auf Druck der Sowjetunion von seinem Amt zurücktreten.
Hans Frölicher, der Botschafter, kehrte im Mai 1945 nach Bern zurück. Hitler war tot, die deutsche Hauptstadt ein Trümmerfeld, in dem unweit des zerstörten Reichstags und des Führerbunkers fast unbeschädigt die Schweizer Gesandtschaft stand. Millionen Menschen waren getötet worden, doch in der kriegsverschonten Schweiz wollte man die eigene Rettung jetzt lieber der tapferen Armee unter General Henri Guisan verdanken als einer anrüchigen Diplomatie und profitablen Rüstungs- und Finanzgeschäften.
Tragödie oder Farce?
Über Frölichers Rückkehr hat Thomas Hürlimann 1991 sein Stück «Der Gesandte» geschrieben, fast gleichzeitig kam damals auch ein Stück von Urs Widmer auf die Bühne. Fiktion und historische Wahrheit vermischten sich bei beiden Autoren, doch wo Hürlimann den Stoff mit finsterem Pathos gestaltete, war Widmers «Frölicher» eine sarkastische Komödie, ein «Fest», wie es im Untertitel hiess. Jetzt kommt ein neuer Spielfilm ins Kino, der sich an Hürlimanns Stück anlehnt: «The Forgotten Man» von Laurent Nègre übernimmt von Hürlimann den Namen des Gesandten, Heinrich Zwygart, und die Schwere der Tragödie, die in Wirklichkeit wohl eher eine üble Farce war. Allerdings fügt Nègre in seine Story neben Zwygart noch eine wirklich tragische Figur ein: den Schweizer Maurice Bavaud, der 1938 in München versuchte, Adolf Hitler zu töten, und 1941 in Berlin-Plötzensee hingerichtet wurde.
Bavaud war der Sohn eines Postbeamten und einer Gemüsehändlerin aus Neuchâtel, Student der katholischen Theologie. Hätte er Hitler umgebracht, wäre die Weltgeschichte anders verlaufen. Der Schweizer Gesandte, der sich um den verhafteten Mitbürger kümmern sollte, hielt dessen Attentatsversuch für «verabscheuungswürdig». Er tat so wenig wie möglich zu dessen Gunsten, ja eigentlich gar nichts. Selbst das Todesurteil des «Volksgerichtshofs» wurde vor der Familie Bavauds geheim gehalten. Den deutschen Behörden teilte die Gesandtschaft mit, sie werde keinen formellen Antrag auf Begnadigung stellen. Ein Austausch gegen in der Schweiz verhaftete Spione kam nicht infrage. Man verlangte keine Akteneinsicht, schickte keinen Prozessbeobachter, der Verurteilte erhielt nie Besuch oder auch nur Post von der Gesandtschaft. Die Schweizer Diplomatie bemühte sich, der Hinrichtung dieses Schweizers nichts in den Weg zu legen.
Unangenehme Fragen
Im Film von Laurent Nègre sucht der tote Maurice Bavaud den Diplomaten Zwygart in Form von Erscheinungen heim. Zuerst nur beiläufig, dann immer härter, als eine Art Gespenst in der schlossartigen Villa Zwygarts treibt er den Diplomaten langsam in den Nervenzusammenbruch. Gleichzeitig stellt der zu Besuch weilende junge Freund von Zwygarts Tochter dem Hausherrn unangenehme Fragen – über seine Zeit in Berlin und über den Fall Maurice Bavaud, über den er alles zu wissen scheint, obwohl davon nie etwas in der Zeitung stand. Der künftige Schwiegersohn legt in der Villa auch hölzerne Puzzlestücke aus, die Zwygart nach und nach findet und zusammensteckt. Sie erweisen sich als Modell jener Guillotine, auf der Bavaud enthauptet wurde.
Dabei ist der Gesandte (Michael Neuenschwander) mit vielen guten Ratschlägen zurückgekehrt. Gerade er weiss nun am besten, wie man mit den Siegern des Weltkriegs umgehen muss und wie man es einrichtet, am Ende selber zu den Siegern zu gehören. In der Überzeugung, dass einige unterschlagene Akten aus der Nazizeit ihn schützen, fordert er für sich sogar einen Sitz im Bundesrat und entwirft zugleich ein grosses Siegesfest mit amerikanischer Militärmusik im Berner Hotel Bellevue, bei dem er eine Rede halten will. Dieses Fest findet statt. Doch Heinrich Zwygart und seine Familie dürfen nicht teilnehmen, stattdessen lässt ihm die Regierung ein Schreiben vorlegen, mit dem er aus dem diplomatischen Dienst zurücktreten soll. Statt ihn zum Bundesrat hochzuloben – wie auch immer das gegangen wäre –, serviert man den Gesandten ab.
Der Film von Laurent Nègre zeigt den langsamen Verfall der botschafterlichen Herrlichkeit. Sogar beim Sex mit seiner Frau taucht das Gespenst von Maurice Bavaud auf. Die Tochter, die ihm sonst eng verbunden ist, hält im entscheidenden Moment zu ihrem Freund, der sich immer mehr als eine Art Rächer der Familie Bavaud erweist. Vom in derselben Villa lebenden Vater, einem alten Brigadier und Rosenzüchter, der an General Guisan glaubt und jeden Morgen die Schweizer Fahne hisst, schlägt dem Diplomaten ohnehin Unverständnis entgegen.
Mann ohne Gewissen
Die Geschichte des Hitler-Attentäters Bavaud wurde 1980 von Villi Hermann, Niklaus Meienberg und Hans Stürm in einem Dokumentarfilm mit vielen Zeitzeugen erzählt. «Es ist kalt in Brandenburg (Hitler töten)» war vor zwei Jahren in restaurierter Fassung bei den Solothurner Filmtagen sowie später im Schweizer Fernsehen zu sehen. Ähnlich wie der Dokumentarfilm macht Laurent Nègre in seinem Spielfilm nun Botschafter und Attentäter zum Thema. Ähnlich wie Hürlimann zeichnet er den Gesandten aber als Sündenbock einer sich an neuen Opportunitäten orientierenden Nachkriegsschweiz. Zwygart habe «schreckliche Kompromisse eingehen» müssen, heisst es in der Ankündigung des Films, «um die Neutralität und die Sicherheit unseres Landes zu verteidigen». Dem wissenschaftlichen Forschungsstand, etwa jenem der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg, entsprechen solche Sätze kaum. Aber vielleicht ist das ja gar nicht nötig.
Vom echten Frölicher sind keine Gewissensbisse bekannt, weder Bavaud noch anderen gegenüber, die er ebenfalls im Stich gelassen hat. Auch dass er gegen die Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden erst im November 1944, ein halbes Jahr vor Kriegsende, ein wenig protestierte, bekümmerte ihn später nicht. Der Historiker Edgar Bonjour beschrieb ihn als «rasch und flach urteilenden Mann, ohne viel Verständnis, Einsicht und Grundsätze, der weitgehend den Ansichten seiner deutschen Umgebung erlag». Noch in den posthum als Privatdruck erschienenen Erinnerungen zeigt Hans Frölicher mehr Empathie für die missliche Lage der besiegten Nazis als für das Schicksal der von ihnen Verfolgten.
«A Forgotten Man» läuft im Kino. «Es ist kalt in Brandenburg (Hitler töten)» gibts auf www.playsuisse.ch.