Görlitzer Park, Berlin: Leben im Alarmzustand

Nr. 47 –

Der Schriftsteller und Sozialwissenschaftler Raul Zelik wurde nachts im Park zusammengeschlagen. Jetzt versucht er zu verstehen, wie sich seine Wahrnehmung der Stadt verändert hat.

Im Krankenhaus, am ersten Tag nach dem Überfall, rechne ich mit Angriffen von allen Seiten. Der neue Pfleger, der mir den Tropf anlegt, ohne sich vorzustellen, sieht verdächtig aus. Hat nicht schon einmal eine Pflegerin dieses Spitals mehrere Patienten zu Tode gespritzt? Als die Zimmertür ein Stück weit offen steht, greife ich nicht in den Spalt, weil ich Angst habe, jemand könnte die Tür mit Absicht von innen zuziehen. Nach dem Angriff auf den Körper ist das Frühwarnsystem aktiviert: Alle mir unbekannten Personen stellen eine Gefahr dar. Umwelt als Feindesland.

Mit dem Fahrrad durch den Park

Ende September, Wochenende, noch nicht besonders spät, vielleicht 0.40 Uhr: Ich bin mit dem Fahrrad im Görlitzer Park unterwegs, auf dem Heimweg von der Oranienstrasse Richtung Berlin-Treptow. Wie oft am Samstag ist der Park noch ziemlich belebt. Vorn am Café Edelweiss stehen Kneipengäste, Marihuanakundschaft und -verkäuferInnen. An der grossen Senke sitzen TouristInnen auf einer Parkbank und sprechen Italienisch. Seit über zwanzig Jahren fahre ich durch den Park, auch nachts.

Am grossen Fussballplatz taucht plötzlich eine Gruppe junger Männer aus der Dunkelheit auf. Es sind nicht dieselben, die hier dealen. Betrunkene, denke ich, nervig, aber unvermeidlich. In diesem Moment trifft mich ohne jede Vorankündigung von links ein Schlag ins Gesicht. Ich spüre den Unterkiefer krachen, das Gefühl, als hätte man mir einen Zahn ausgeschlagen. Der Sturz verläuft einigermassen kontrolliert, dann beginnen die Männer, auf mich einzutreten. Es fühlt sich an, als wären sie zu siebt oder acht, vielleicht sind es aber auch nur fünf.

Der Angriff kommt derart unvermittelt, dass ich denke, die Männer wollen mich umbringen. Ich erinnere mich an Fälle, bei denen Menschen einfach aus Lust an der Gewalt totgetreten wurden. Vor diesem Hintergrund bin ich erleichtert, als die Angreifer nun von mir ablassen und nach meinem Handy zu suchen beginnen. Während ich Blut spucke, ziehen sie mir Telefon und Portemonnaie aus den Taschen. Mit meiner Zunge spüre ich, dass zwischen zwei Zähnen eine grosse Lücke klafft. Um nicht noch mehr Testosteron bei meinen Angreifern freizusetzen, versuche ich, mich ruhig zu verhalten, und schaue den Männern nicht ins Gesicht.

Nachdem sie mit ihrer Beute abgezogen sind – ein zehn Jahre altes Handy, dreissig Euro –, folgt ein zweiter Schreckensmoment. «Hey, Digger, komm mal her», sagt einer von ihnen in einem unpassend kumpelhaften Ton. Ich denke: Sie wollen mich, nachdem die Beute spärlich ausgefallen ist, noch ein zweites Mal verprügeln. Doch der Mann legt mir bloss das Portemonnaie auf die Parkbank – ohne Geld, aber mit Ausweisen und Karten. Sind sie im Nachhinein erschrocken über die Brutalität ihres Angriffs, oder ist das nur ein Teil ihres Spiels? Das Vergnügen der Katze an der Ohnmacht der Maus?

Warten in der Notaufnahme

Das Gefühl des Ausgeliefertseins hält auch nach dem Angriff an. Die fünfzig Meter entfernt sitzenden ZeugInnen – die italienischen TouristInnen, zwei Dealer auf einer Parkbank – halten sich von mir fern. Vielleicht haben sie nicht verstanden, was geschehen ist, vielleicht haben sie keine Papiere, vielleicht sind sie einfach nur gleichgültig. Ich schleppe mich nach Hause, melde mich bei der Polizei, die erklärt, dass man nichts unternehmen kann. Im Görlitzer Park seien zu viele Personengruppen unterwegs – wie sollte man da ohne Täterbeschreibung vorgehen? Immerhin schickt man einen Krankenwagen. Im Klinikum Neukölln geht es nahtlos weiter: Fünf Stunden warte ich in der Notaufnahme, bis eine Ärztin mich untersucht; weitere zwei, bis ich geröntgt bin. Es ist mir schleierhaft, warum sich eine Gesellschaft, die nicht weiss, wohin mit ihren Privatvermögen, kein funktionierendes Gesundheitssystem leistet.

Schliesslich werde ich mit Verdacht auf Kieferbruch ins Krankenhaus Steglitz überwiesen, erst dort tut sich etwas: Ein Arzt, der sich aufregt, dass ich seit elf Stunden unbehandelt bin, lässt mich sofort in den OP-Saal bringen. Man trennt das Zahnfleisch vom Kiefer und setzt mir Titanplatten ein. Die ersten Tage nach dem Eingriff sehe ich aus wie Frankenstein, dann werde ich entlassen. Die Unterlippe wird wohl noch einige Monate teilweise taub sein.

Im Görlitzer Park überfallen zu werden, ist heute ein Politikum. Zwei Wochen nach meiner Entlassung erscheint in der FAZ ein langer Artikel, in dem der Angriff auf mich als Beleg für den Verfall des Parks gewertet wird. Wie immer, wenn vom «Görli» die Rede ist, geht es um Drogen und afrikanische Flüchtlinge. Die Autorin schreibt, die mit dem Drogenhandel einhergehende Gewalt werde systematisch ignoriert. Und auch im Bekanntenkreis wissen die meisten Bescheid: Im Drogenhotspot Görlitzer Park muss man mit so etwas rechnen.

Eine derartige Gefahreneingrenzung würde mir gefallen. Am beunruhigendsten am Überfall ist nämlich nicht die Gewalt, sondern die Tatsache, dass ich völlig unangekündigt angegriffen wurde. Wenn ich jederzeit damit rechnen muss, von anderen brutal attackiert zu werden, bleibt mir nichts als eine Verallgemeinerung der Angst. Das Bedürfnis, die Gefahrenquelle einzugrenzen und ihr einen konkreten Ort zuzuweisen, ist gross. Doch hat das eine – die Gewalt – wirklich mit dem anderen – dem Drogenhandel – zu tun?

In den ersten Wochen traue ich mich nicht in den Park. So instabil wie die Statik der Gesichtsknochen ist auch die Psyche; erst allmählich festigt sich dank der eingeschraubten Titanplatten auch wieder die eigene Selbstwahrnehmung. Meine Frau geht mögliche ZeugInnen suchen und befragt die meist afrikanischen Männer, die auf den Parkbänken herumsitzen. Den Überfall hat keiner von ihnen gesehen, aber ihre Antworten sind trotzdem erhellend. Sie hätten nachts auch Angst, sagt einer, es gebe Leute, die würden sie zusammenschlagen und ausrauben. Junge Männer aus Berlin.

Zaghafte Annäherungen

Nach vier Wochen, ich kann immer noch nicht kauen, betrete ich zum ersten Mal wieder den Park. Es ist frühlingshaft, sonnig, für die Jahreszeit zu warm. Der «Görli» stresst mich sofort; allerdings nicht wegen der Erinnerungen. Mich stören die Menschenansammlungen, Bauzäune, Müllberge, Gruppen von TouristInnen, die frei laufenden Hunde. Trotz des allgemeinen Herumhängens strahlt der Park etwas Nervöses aus. Zufällig treffe ich eine Freundin und berichte, was mir passiert ist. Meine Geschichte habe ich mittlerweile sicher fünfzig Mal erzählt, und mit jedem Mal fühle ich mich etwas sicherer. Distanz durch Annäherung.

Irgendwann stelle ich die Vermutung an, der Drogenhandel verursache die Gewalt zwar nicht, doch er ziehe sie zumindest an. Doch die Freundin hat einen entwaffnend einfachen Einwand: Ob ich mich nicht daran erinnern würde, dass es vor zwanzig Jahren im damals noch recht leeren Görlitzer Park auch regelmässig zu Überfällen und Vergewaltigungen kam – ohne Drogenhandel? Und eine weitere Freundin, die sich dazugesellt hat, fügt hinzu, dass sie nachts nur dort durch den Park fährt, wo besonders viele Dealer stehen. Weil diese auch ein Schutz sein könnten.

Mein Versuch, die Angst einzuhegen, scheitert. Das Problem ist diffuser und beunruhigender: Es hätte mich überall treffen können. Auf dem Alex, vor einer Disco, nach einem Fussballspiel. Erstaunlich viele Bekannte erzählen, dass sie schon einmal zusammengeschlagen wurden. Offensichtlich gibt es zu viele Männer, die auf Gewalt und Erniedrigung anderer stehen.

Strategien aus Medellín

Trotzdem habe ich das Gefühl, mit der Situation umgehen zu können. Die letzten Jahre habe ich in Medellín gelebt, einer Stadt, der der Ruf als «gewalttätigste Metropole» der Welt anhängt. Dort trainiert man sich an, die Umgebung nach potenziellen Angreifern abzusuchen. Sobald Unbekannte auftauchen, wechselt man Strassenseite, Geschwindigkeit, Richtung. Das Ergebnis ist allgemeines Misstrauen. Normale menschliche Beziehungen werden blockiert, die Stadt als sozialer Ort zerstört.

Dieser permanente Alarmzustand, den ich aus Kolumbien kenne, begleitet mich nun auch in Berlin. Ich überlege, welche Route ich fahre, welchen Menschenansammlungen ich nicht begegnen möchte. Der Schrecken hält sich in Grenzen, aber die Freude an der Stadt ist weg. Das Schlimmste an der Gewalt ist, dass sie das Soziale zerstört.