Das IKRK im Informationszeitalter: «Wikileaks ist eine Herausforderung»
Die humanitäre Arbeit des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz beruht stark auf dessen Verschwiegenheit. In den letzten Jahren sind vermehrt brisante Daten an die Öffentlichkeit gelangt.
Mit dem Hochhalten von Prinzipien wie Neutralität und Vertraulichkeit ist das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) eine durch und durch schweizerische Institution. Lange gehörte es im Genfer Bürgertum zum guten Ton, sich zum Beispiel vor der Karriere in einer Privatbank ein paar Jahre lang als IKRK-Delegierter zu verdingen. Die 1863 in Genf gegründete Organisation, die gemäss einem völkerrechtlichen Mandat weltweit Opfer von bewaffneten Konflikten schützen soll, hat sich in den letzten Jahrzehnten zwar stark professionalisiert und internationalisiert – doch die als typisch schweizerisch geltenden Werte sind geblieben.
Nicht viel anders als die Banken sieht sich allerdings das IKRK seit einigen Jahren mit der Forderung nach mehr Transparenz konfrontiert, mit der rasanten Entwicklung von Informationstechnologien und mit Organisationen, die Letztere für ihre Zwecke zu nutzen wissen. Geheimdienste überwachen das IKRK schon länger. In den neunziger Jahren soll ein Geheimdienstvertreter die IKRK-Direktion gebeten haben, dafür zu sorgen, dass sich die Delegierten (die damals noch ausschliesslich Schweizer BürgerInnen waren) am Telefon entweder französisch oder hochdeutsch miteinander austauschen – und doch bitte nicht auf Schwiizertüütsch, das die Geheimdienstmitarbeitenden kaum verstehen könnten.
Vertrauen dank Vertraulichkeit
Druck auf das IKRK, Informationen freizugeben oder Delegierte als ZeugInnen aussagen zu lassen, kommt mehr und mehr von internationalen Gerichten, etwa dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Auch im laufenden US-Militärprozess gegen die mutmasslichen Chefplaner der Terroranschläge vom 11. September 2001 wird das Vertraulichkeitsprinzip des IKRK torpediert: Ein Verteidiger verlangte im Juni die Herausgabe geheimer IKRK-Berichte, die die Behandlung der Gefangenen in Guantánamo dokumentieren; im November hat ein Richter des Militärtribunals entschieden, dass die US-Regierung solche Berichte, die das IKRK zuhanden Washingtons angefertigt hatte, den Richter- Innen zur Verfügung stellen müsse.
Keine gute Nachricht für die Genfer Organisation. «Wenn unsere Dokumente in Gerichtsakten eingehen, könnte dies sowohl unsere Arbeit in einzelnen Ländern gefährden als auch die Sicherheit unserer Mitarbeitenden», sagt Kommunikationschefin Dorothea Krimitsas auf Anfrage. «Das IKRK hat seine langjährige Praxis der Vertraulichkeit genau aus solchen Gründen entwickelt.» Nur dank dieser Praxis erhalte das IKRK Zugang zu Menschen, die sonst in bewaffneten Konflikten und (zuweilen geheimen) Gefängnissen allein und schutzlos wären. «Wir arbeiten oft in einem Umfeld, in dem Kritik von aussen nicht geduldet wird», sagt Krimitsas. «Vertraulichkeit hilft, Vertrauen zu Behörden aufzubauen und Türen aufzustossen, die sonst verschlossen bleiben würden. Wir sind überzeugt, dass dies zu Verbesserungen führt.»
Das IKRK ist schon oft kritisiert worden für dieses höchst diplomatische Vorgehen. Bereits im Zweiten Weltkrieg scheiterte die Organisation dabei, über einen «vertraulichen Dialog» mit dem nationalsozialistischen Regime Deutschlands eine Gleichstellung der in den Konzentrationslagern internierten Menschen mit Kriegsgefangenen zu erreichen. Um weiterhin Zugang zu den Kriegsgefangenen zu haben, unterliess es die Organisation damals, weiteren Druck aufzubauen. Deshalb, und wegen einer möglichen Gefährdung seines Neutralitätsprinzips, gab das IKRK den Alliierten auch nur zögerlich und unsystematisch Informationen zur Deportation der jüdischen Bevölkerung und über die Vernichtungslager weiter.
Heute definiert das IKRK die «Mobilisierung von Drittparteien» und sogar die «öffentliche Denunziation» als mögliche Schritte in «aussergewöhnlichen Umständen»: falls Behörden humanitäres Völkerrecht und die Empfehlungen des IKRK «in grundlegender Weise und wiederholt verletzen». Genau das war offenbar in Indien der Fall. Nachdem das IKRK während eines Jahrzehnts in vertraulichen Berichten und einem ebensolchen Dialog vergeblich versucht hatte, die indische Regierung davon abzubringen, die im Rahmen des Kaschmirkonflikts festgenommenen Menschen zu foltern, mobilisierte das IKRK im April 2005 die US-Diplomatie, um Delhi doch noch unter Druck zu setzen.
Die US-Botschaft in Delhi hielt nach einem IKRK-Briefing fest, dass das IKRK von 2002 bis 2004 1296 Gefangene vertraulich interviewt habe, von denen über die Hälfte gefoltert worden seien – etwa mit Elektroschocks oder durch das Zermalmen der Beinmuskulatur. Weil sich die Praxis auch nach Vorstössen nicht geändert habe, «muss das IKRK zum Schluss kommen, dass die indische Regierung Folter duldet». Zudem seien fast alle Folteropfer Zivilisten, denn die Militanten würden routinemässig getötet.
«Sehr frustriert»
Eigentlich hätte dieser Informationsaustausch geheim bleiben sollen. Doch die Enthüllungsplattform Wikileaks kam in den Besitz der entsprechenden Notiz des US-Botschafters und stellte sie unter anderem der britischen Tageszeitung «Guardian» zur Verfügung, die Details daraus im Dezember 2010 veröffentlichte. Internationale Menschenrechtsorganisationen wie Physicians for Human Rights oder Amnesty International hatten zwar schon lange vorher auf die Folterpraktiken der indischen Sicherheitskräfte hingewiesen, doch die systematische Erhebung und vor allem die klare Verurteilung durch das IKRK konnte die internationale Diplomatie weniger leicht ignorieren. Wobei geleakte US-Dokumente aus späteren Jahren nahelegen, dass sich in den indischen Verhörverliesen trotzdem kaum etwas verbessert hat.
Unmittelbar nach dem Kaschmir-Leak befürchtete das IKRK öffentlich, dass Indiens Regierung wegen der für die selbst ernannte «grösste Demokratie der Welt» höchst peinlichen Veröffentlichung der Folterdaten das Rote Kreuz von weiteren Gefangenenbefragungen abhalten könnte. Das IKRK bestätigte aber auch die Richtigkeit der geleakten Informationen und verteidigte sein Vorgehen: «Das IKRK war sehr frustriert wegen des mangelnden Dialogs der indischen Behörden», sagte IKRK-Sprecher Alexis Heeb damals gegenüber einer internationalen Nachrichtenagentur. «Vertraulichkeit ist nicht bedingungslos; wenn kein Dialog mehr möglich ist, können wir Partner mobilisieren, die uns in der humanitären Diplomatie helfen.»
Wikileaks und die Geldgeber
Heute sieht Alexis Heeb auch für das IKRK kaum negative Konsequenzen: «Wir können in Indien weiterhin in gleicher Weise Gefangene besuchen», sagt er. Dafür war wohl mit entscheidend, dass sich das Datenleck nicht beim Roten Kreuz, sondern bei den US-Behörden befand. Doch das IKRK fürchtet kaum etwas mehr, als es sich mit Grossmächten zu verspielen, ganz besonders den USA, die für den grössten Teil seines Budgets aufkommen. Wikileaks hat nicht nur die Indieninformationen veröffentlicht, sondern auch einen (ebenfalls durch US-Behörden geleakten) IKRK-Bericht zu Guantánamo, der den USA vorwirft, «Methoden anzuwenden, die mit Folter gleichbedeutend sind».
Ist also Wikileaks auch für das von US-Geldern abhängige IKRK eine existenzielle Bedrohung? «Wikileaks ist eine Herausforderung», sagt Heeb nach ein paar Sekunden Bedenkzeit. «Aber es ist nur eine der Herausforderungen, die durch die neuen Informationstechnologien entstanden sind.» Und Letztere seien ja auch für die humanitäre Arbeit überaus nützlich, etwa bei Konflikten oder wenn es darum gehe, bei Naturkatastrophen vermisste Menschen zu finden.
Eindeutig ist nur: Auch die altehrwürdige humanitäre Organisation in Genf kann sich dem sich rasch wandelnden Informationszeitalter nicht entziehen. Das IKRK wird sich zunehmend mit Geheimdiensten und Wikileaks auseinandersetzen müssen – und auch mit wachsenden Transparenzansprüchen internationaler Gerichtshöfe.
WOZ-Auslandredaktor Markus Spörndli arbeitete 2004/05 als IKRK-Delegierter im indischen Bundesstaat Jammu und Kaschmir. Er unterschrieb eine Vertraulichkeitsklausel und gibt hier ausschliesslich öffentlich zugängliche Informationen wieder.
Sonderfall IKRK
Im Gegensatz zu anderen humanitären Organisationen beruht die Legitimation des IKRK direkt auf dem Humanitären Völkerrecht. Das IKRK hatte die Genfer Konventionen angestossen, die für Kriegsparteien humanitäre Verhaltensregeln festlegen, insbesondere im Umgang mit ZivilistInnen und Kriegsgefangenen. Das IKRK-Budget von heute über einer Milliarde Franken pro Jahr wird grösstenteils von den Signatarstaaten der Genfer Konventionen bereitgestellt. Mehr als 12 000 Mitarbeitende sind in über achtzig Ländern im Einsatz.