Humanitäre Hilfe in der Ukraine: «Wir sind keine Armee» 

Nr. 36 –

Der Baselbieter Jürg Eglin leitet die Delegation des IKRK in der Ukraine. Ein Gespräch über die anhaltenden Imageprobleme seiner Organisation und den erschwerten Zugang zu Kriegsgefangenen im besetzten Donbas.

Jürg Eglin vor dem IKRK-Büro in Kyjiw
«Wenn sich die Leute die Zeit nehmen, unsere Rolle zu verstehen, lassen sich die Vorwürfe schnell entkräften»: Jürg Eglin vor dem IKRK-Büro in Kyjiw. 

WOZ: Herr Eglin, wen auch immer man in der Ukraine fragt: Viele haben eine Meinung zum IKRK – und meistens keine gute. Wie kam es zu diesem Imageproblem?

Jürg Eglin: Wir werden immer wieder aufgefordert, uns klar zu positionieren, zu sagen, wer in diesem Krieg recht und wer unrecht hat. Aber wir als IKRK stellen uns nicht die Frage, warum ein Krieg geführt wird, sondern lediglich, wie – eine Haltung, die die Leute in der Ukraine oft irritiert. 2022, zu Beginn des Krieges, war die Situation für uns ziemlich schlimm: Unsere Mitarbeiter:innen haben sich kaum auf die Strasse getraut, kaum gewagt zu sagen, wer sie sind und für wen sie arbeiten – und das auch im persönlichen Umfeld. Damals herrschte im Land allgemein eine hochdramatische Stimmung, und da wurde unsere Position der humanitären Neutralität von vielen nur schlecht verstanden. Das hat sich mittlerweile klar verbessert.

Gerade letzte Woche haben wieder Leute vor Ihrem Büro in Kyjiw demonstriert.

Das war tatsächlich ein schwieriger Tag. Vor meinem Büro standen rund hundert aufgebrachte Personen – viele von ihnen Mütter, Schwestern und Ehefrauen von Kriegsgefangenen oder Männern, die vermisst werden. Diese Frauen erleben wahnsinnig schwierige Zeiten, sie haben keinerlei Informationen darüber, wo ihre Liebsten sind und was mit ihnen passiert. Auch wenn wir viel mehr machen, reduzieren viele unsere Arbeit auf die Beschaffung von Informationen über Kriegsgefangene und Besuche in den Gefangenenlagern. Da gibt es noch immer viele Missverständnisse.

Was warfen Ihnen die Protestierenden denn konkret vor?

Sie sagten, wir würden ihnen keine Antworten liefern, ihre Männer nicht zurückbringen. Ich habe probiert, mit den Leuten zu reden, hatte aber das Gefühl, gar nicht zu ihnen durchzudringen. Dabei haben wir in den letzten zweieinhalb Jahren Krieg Tausenden Familien in der Ukraine und auch in Russland lang ersehnte Neuigkeiten über ihre Angehörigen überbringen können.

Sind die Erwartungen ans IKRK zu hoch?

Vielleicht. Wenn das Völkerrecht verletzt wird und Verbrechen begangen werden, fragen gewisse Leute: Was macht ihr als IKRK dagegen? Aber was wir machen können, hängt davon ab, ob und wie weit uns Zugang gewährt wird. Das Thema Kriegsgefangene ist ein hochpolitisches – aber nur ein Bereich unserer Arbeit. Wir unterstützen Spitäler und Institutionen im Bereich Erste Hilfe, Behandlung und Rehabilitation, reparieren beschädigte Energieinfrastruktur, Wasserwerke und Abwasseranlagen. Wir helfen Familien in der Nähe der Front und auch Binnenvertriebenen mit Lebensmittelpaketen und Bargeld, und wir überwachen die Einhaltung der Genfer Konventionen.

Dass sich das IKRK dabei auf das Prinzip der Neutralität und des Dialogs mit beiden Kriegsparteien beruft, bringt Ihnen oft den Vorwurf ein, dass Ihnen die Dinge egal seien …

Da wehre ich mich dagegen. Wenn sich die Leute die Zeit nehmen, unsere Rolle zu verstehen, lassen sich die Vorwürfe schnell entkräften. Aber wenn die Anschuldigungen bloss von Emotionen geleitet sind, Leute uns anklagen und diese Anklagen direkt auf Social Media posten, ist es schwierig, unsere Sichtweise begreiflich zu machen. Wir sind aber ja nur der Überbringer der Nachrichten. Also: «Don’t shoot the messenger.» Ich glaube, dass die humanitäre Neutralität, der wir verpflichtet sind, ihren Wert hat. Wir sagen aber keineswegs, dass alle humanitären Organisationen neutral sein müssen. Es gibt hier in der Ukraine ja auch viele private, kleine Organisationen mit einer klaren proukrainischen Einstellung, das hat alles seinen Platz.

In der Ukraine kommt auch oft der Vorwurf, das IKRK spreche noch immer bloss von einem «bewaffneten Konflikt», statt die Aggression beim Namen zu nennen. Sie hingegen nennen Russlands Krieg gegen die Ukraine sehr klar einen «Krieg».

Ich bin kein Jurist, trage aber die Verantwortung für eine Organisation mit stark juristischer Herangehensweise. Ich habe den Ausdruck «Krieg» jetzt vermehrt gebraucht – und werde von unseren Jurist:innen und Kommunikationsleuten dafür sicher zu hören bekommen, dass ich das so nicht sagen dürfe. Für uns juristische Lai:innen hat das Wort «Krieg» eine andere Bedeutung als «bewaffneter Konflikt» – auch wenn das juristisch der richtige Ausdruck ist. Das ist nicht meine Erfindung, sondern ein Begriff, der im humanitären Völkerrecht festgelegt ist. Jurist:innenfutter, wenn ich das so nonchalant sagen darf.

Wie ist denn die Zusammenarbeit mit den ukrainischen Behörden?

Im Krieg gibt es das Schlachtfeld vor Ort – das ist eine brutale Realität. Aber es gibt auch andere Dimensionen, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen, wie Social Media und Politik. Und manchmal müssen wir als Sündenbock herhalten. Wir versuchen aber, uns aus politischen Überlegungen herauszuhalten. Ich stehe mit dem Büro des ukrainischen Ombudsmanns in engem Kontakt. Manchmal einigen wir uns darauf, uneins zu sein, und können uns auch mal gegenseitig kritisieren, solange wir alle darauf hinarbeiten, dass das Völkerrecht respektiert wird.

Viele treibt die Frage um, ob die Rechte der Kriegsgefangenen von allen Seiten respektiert werden. Welche Erfahrungen machen Sie?

Leider gibt es dazu keine einfache Ja- oder Nein-Antwort. Ich kann nicht öffentlich sagen, wer besser und wer schlechter ist, das würde dem Prinzip widersprechen, nach dem wir arbeiten. Um diese Informationen an die Öffentlichkeit zu bringen, gibt es andere Institutionen. Da passiert viel hinter der Bühne. Das antworte ich jeweils auch auf die Fragen, die immer wieder kommen. Die Leute heute Morgen vor unserem Büro hatten Klebband über den Mündern, auf dem stand: «Durch euer Schweigen macht ihr euch mitschuldig.» Aber wir müssen diskret sein – sonst würden wir unsere Arbeit aufs Spiel setzen, nicht nur in der Ukraine, sondern weltweit.

Wie offen ist die russische Seite für Besuche bei ukrainischen Kriegsgefangenen?

Wir sind sowohl in Russland als auch in den Gebieten im Donbas präsent. Die Arbeit dort ist schwierig, die Bedingungen sind nicht befriedigend, aber wir probieren, mehr zu machen. Auch da ist nichts schwarz-weiss. In lokalen Medien und Diskussionen in der Ukraine heisst es oft, das IKRK mache überhaupt nichts. Auch heute Morgen wurde mir wieder um die Ohren gehauen, wir seien absolut unnütz. Aber ich kann klar sagen: Bei unserer Arbeit in Russland steht viel auf dem Spiel. Darum müssen wir sehr vorsichtig sein, wie wir das in der Öffentlichkeit darstellen.

Diskutiert wurde der Zugang des IKRK zu Kriegsgefangenen besonders im Zusammenhang mit dem Gefangenenlager in Oleniwka im russisch besetzten Oblast Donezk. Dort starben im Juli 2022 mehr als fünfzig ukrainische Kriegsgefangene durch eine Explosion, darunter vor allem Verteidiger des Asowstal-Stahlwerks in Mariupol. Die Ukraine geht von einem gezielten Massaker der russischen Truppen aus. Russland hatte angekündigt, Vertreter:innen des IKRK Zugang zum Lager zu gewähren, doch das geschah nicht. Was ist dort genau passiert?

Das war ein dramatisches, brutales Ereignis für uns, das uns unsere Grenzen aufgezeigt hat. Wir haben damals eng verfolgt, was im umkämpften Asowstal-Werk passiert war, wie die ukrainischen Soldaten sich ergeben mussten und verhaftet wurden. Wir haben deshalb unsere Dienste angeboten und wollten Zugang zu Oleniwka, um zu schauen, wer sich dort befindet, wie die Gefangenen behandelt, ob die Genfer Konventionen eingehalten werden. Aber die Erwartungen in der Ukraine an uns wurden stark hochgeschraubt: Es hiess, wir würden sicherstellen, dass die Gefangenen recht behandelt würden; es wurde gar erwartet, dass wir die Soldaten zurückbringen. Das liegt aber überhaupt nicht in unserem Aufgabenbereich.

In der Ukraine sprachen nach dem Tod der Gefangenen viele von einem Versagen Ihrer Organisation. Auch Präsident Wolodimir Selenski äusserte damals deutliche Kritik.

Wir hatten eigene Leute vor Ort, die mit Helmen und schusssicheren Westen in den Landcruisern sassen und bereit waren hineinzugehen. Aber in der Region wurde weitergekämpft, und wir hatten keine Sicherheitsgarantie. Meine Kolleg:innen waren bereit, ihre Arbeit zu machen – und das unter extrem schwierigen Bedingungen. Aber wir sind keine Armee, können uns den Weg in die Gefängnisse nicht freischiessen. Oleniwka ist ein Gefängnis, das wir noch immer besuchen wollen und wo wir ständig wieder nach Zugang fragen.

Was berichten denn Ihre Mitarbeitenden aus den russisch kontrollierten Gebieten über die Lage vor Ort?

Wir hören ähnliche Geschichten wie von der ukrainischen Seite der Front: Viele Gemeinden in Frontnähe stehen unter Beschuss, auch dort gibt es Leid und Zerstörung, Menschen sterben. Aus humanitärer Perspektive gibt es sicher viele Herausforderungen. Wir versuchen unser Bestes, aber die Umstände sind schwierig – auch was den unabhängigen Zugang angeht, um frei arbeiten zu können.

Ist das IKRK auch in den ukrainisch kontrollierten Gebieten im russischen Kursk vertreten?

Gegenwärtig nicht. Wir sind dazu bereit, benötigen dafür aber den Konsens aller Kriegsparteien. Wir können da nicht einfach reinfahren, es gibt eine internationale Grenze und rechtliche Grundlagen.

Der aus dem Kanton Baselland stammende Jürg Eglin (61) arbeitet seit über dreissig Jahren für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK). Zu seinen Stationen gehören Länder wie der Südsudan, Somalia, Kenia und der Niger. Seit Anfang 2023 leitet Eglin die IKRK-Delegation in der Ukraine.