Medientagebuch: Meister des Massanzugs
«Deadline» von Constantin Seibt
Nein, eine Deadline hatte ich nicht. Der amerikanische Kollege war erstaunt, als ich ihm erklärte, nur Informationen für Reportagen zu sammeln, die ich später auf der Redaktion ohne Zeitdruck schreiben könne. Das Gespräch fand in der Bar im «Camino Real» in San Salvador irgendwann in den achtziger Jahren statt.
Seit 2001 bin ich pensioniert. Als «Journalist des 20. Jahrhunderts» war ich auf die Lektüre des Buchs «Deadline» gespannt, in dem Constantin Seibt auf über 300 Seiten erklärt, «wie der Journalismus im 21. Jahrhundert neu erfunden werden muss». Den Hauptgrund, warum die Nachrichtenindustrie so verkalkt sei, ortet der «Tages-Anzeiger»-Journalist mit Recht in ihrem über hundert Jahre alten Erfolg: Bis in die neunziger Jahre war Zeitungdrucken fast gleichbedeutend mit Gelddrucken. Die verwöhnten Verleger verpassten es, rechtzeitig auf das Internet zu reagieren.
«Deadline» gibt Ratschläge, wie man als einzelner Journalist trotzdem überleben kann. Seibt setzt auf Stil und Individualität: Der individuelle Ton jeder Story, jedes Journalisten, jeder Zeitung sei ihr bestes Verkaufsargument. Seibt: «Ein Massanzugsartikel ist das Coolste, was ein Journalist aufs Papier bringen kann.» Die Realität in den Redaktionen sieht aber anders aus. Anstatt «Massanzüge» müssen immer mehr JournalistInnen billigen Onlineramsch produzieren. Es entstehen Zweiklassenredaktionen: hier die wenigen Stilistinnen und dort die Content-Provider, ihre von Klicks und Technik getriebenen Arbeitsbedingungen werden in «Deadline» nicht beschrieben.
Seibts Vorschläge, wie die Zeitung (Print und online) im 21. Jahrhundert weiterbestehen kann: Die Lokalberichterstattung müsse umgekrempelt werden. Anstatt Lokalpolitik Szenenberichterstattung – Banker-, Theater-, Werber-, Schwulen-, Kunst- und Politikszene. Eine so erweiterte Zeitung nicht zu lesen, würde zum Karrierenachteil. Die Redaktionen vergleicht Seibt mit Südafrika vor der Aufhebung der Apartheid: weisse Männer mittleren Alters aus der Mittelklasse. Oder: Anstatt in die Computer zu starren, sollten Expeditionsteams über Wochen hinweg von den LeserInnen bestimmte Fragen bearbeiten: Wie beeinflusst Lobbying die Politik? Verschwindet die Mittelklasse?
Haben solche Ideen überhaupt Chancen? «Auf Hilfe von oben kann man nicht hoffen», sagt Seibt, ohne aber dieses «oben» zu thematisieren. Er erinnert zwar an den «brutalen Schnitt» in der Redaktion des «Tages-Anzeigers» im Mai 2009 («Mai-Massaker»), als ein Viertel der Redaktion entlassen wurde. Nach einem Relaunch, so zitiert der Autor aber die Meinung von LeserInnen, sei die Zeitung mit stark reduziertem Personal sogar besser geworden. Die Verlagsleitung fühlt sich bestätigt, und neue Sparschnitte folgen. Ex-WOZ-Redaktor Seibt schlägt dagegen vor, die Löhne um zwanzig Prozent zu kürzen, dafür weitere Leute einzustellen und «das beste Blatt der Branche zu machen». Die übertriebenen Dividenden für die Tamedia-AktionärInnen sind kein Thema.
Gut 120 «Tages-Anzeiger»-RedaktorInnen, darunter auch Seibt, protestierten kürzlich in einem Brief an Chefredaktion und Verleger gegen zunehmende Selbstausbeutung, fehlende Investitionen in den Journalismus und Führungslosigkeit. Die LeserInnen erfuhren davon nur in wenigen Zeilen. Das ist sicher kein Journalismus im 21. Jahrhundert, wo das Publikum «immer neu erobert werden muss» (Seibt).
Roman Berger war Korrespondent des «Tages-Anzeigers» in Washington und Moskau.
Constantin Seibt: Deadline. Kein & Aber. Zürich, Berlin 2013