Ein Jahr «Republik»: Grosse Geschichten aus der Wundertüte
Was hat die «Republik» nicht alles versprochen: Expeditionen in die Wirklichkeit, viele schreibende Frauen, gar die Rettung der Demokratie. Das Onlinemagazin hat oft beeindruckt, aber ein bisschen mehr Leichtigkeit würde ihm guttun.
Und dann war sie endlich da, die grosse Recherche. Es war Ende April 2018, das Onlinemagazin «Republik» war seit einem Jahr in aller Munde und seit drei Monaten online, als es die Geschichte publizierte, die einschlug: eine vierteilige Serie über ein Baukartell in Graubünden. Zwar waren viele der Fakten nicht unbekannt, die «Südostschweiz» hatte vier Jahre zuvor bereits über das Kartell berichtet. Doch die gross angelegte Recherche der «Republik» ging viel weiter, und die JournalistInnen erzählten die Geschichte so, dass sie knallte. Die «Republik» werde nicht den ersten, sondern den definitiven Text liefern, hatte Mitbegründer Constantin Seibt ein Jahr zuvor in der «Zeit» versprochen. Mit dieser Recherche traf das für einmal ein.
Farbige Post-its und ein Manifest
Und sonst? Was wurde nicht alles versprochen damals, als die beiden Journalisten Christof Moser und Constantin Seibt die Werbetrommel für ihr neues Onlinemagazin rührten. Nichts weniger als die Demokratie sollte gerettet werden, der Journalismus sowieso, man würde sich «durch den Staub der Welt arbeiten» und ein «Expeditionsteam in der Wirklichkeit» sein. Man würde, wie die politischen Köpfe der Helvetischen Republik, an das Ganze denken, nicht nur an die eigene Schicht oder Kaste. Frauen würden fünfzig Prozent des Kernteams ausmachen, anders als bei anderen Medienprojekten, wo «Erfahrung und Testosteron» dominierten. Man würde sich nur zu Wort melden, wenn man etwas zu sagen hätte, «No Bullshit eben». Filmchen und Fotos zeigten eine fröhliche Runde, die gerne farbige Post-its beschrieb und über den Niedergang des Journalismus diskutierte. Ein Manifest wurde veröffentlicht.
Und auf der WOZ wunderte man sich. Einerseits freute man sich über das angekündigte Produkt, denn tatsächlich dominieren in der Schweizer Medienlandschaft drei Grossverlage die Berichterstattung, etwas frischer Wind würde das Ganze aufwirbeln. Auch das Modell überzeugte: Werbefrei sollte die neue Onlinezeitung sein, finanziert von LeserInnen, Spenden sowie InvestorInnen. Weder VerlegerInnen noch Verlegerfamilien würden eine fette Dividende erhalten. Und doch irritierte das riesige Tamtam, das die GründerInnen um sich selber machten. Denn arbeiten nicht auch bei Grosskonzernen nach wie vor JournalistInnen, die unter immer prekärer werdenden Umständen ihren Job tatsächlich gut machen? Und gibt es nicht bereits andere Medien, die versuchen, dem medialen Einheitsbrei etwas entgegenzuhalten? Doch wir nahmen es sportlich – auch als die «Republik» zwei von unseren Reportern übernahm – und freuten uns über die neue Konkurrenz und deren geglücktes Crowdfunding. In nur zehn Stunden hatte die «Republik» 3800 Jahresabonnemente für 240 Franken verkauft, was zeigt, dass LeserInnen noch immer bereit sind, für journalistische Inhalte zu bezahlen – auch online. Schliesslich kamen mit 15 500 AbonnentInnen, Beiträgen von InvesstorInnen sowie Spenden über 7, 7 Millionen Franken zusammen. Rund dreissig MitarbeiterInnen konnten zu einem Einheitslohn von 8000 Franken eingestellt werden. Die Euphorie war gross, der Fanklub ebenso.
Männer über Männer
Am 14. Januar 2018 wurden die ersten Texte online gestellt. Was zu Beginn auffiel, waren ihre ausufernde Länge, der Drang, alles von seinen Anfängen her zu erklären, sowie die thematische Dominanz von Facebook und den USA. Doch das Spektrum wurde breiter, man ging nach Malta, nach Italien, ins Bundeshaus, nach Biel und Winterthur – und man wühlte sich durch den Staub des Bündner Baukartells. Kürzere Textformen wurden lanciert sowie Audio- und Videoformate ausprobiert; was blieb, war der staatstragende Ton.
In ihrem ersten Jahr war die «Republik» eine Wundertüte: Im Schnitt wurden drei Texte pro Tag online gestellt – mit welchen Themen oder Debatten diese sich beschäftigen würden, war kaum absehbar. Konstanten waren die Samstagskolumnen von Daniel Binswanger sowie die kompetente Gerichtsberichterstattung von Brigitte Hürlimann und ihren KollegInnen. Regelmässig wurde über Medienthemen berichtet, auch die Bundespolitik ist mittlerweile gut abgedeckt. Hingegen fristen gesellschaftsrelevante Themen wie Gesundheit (mit Ausnahme von Drogen und Aids), Familie oder Feminismus eher ein Schattendasein. Zwar hat man zu einem Jahr #MeToo ein Podium organisiert und das Thema auch journalistisch begleitet mit Interviews mit Frauen wie Min Li Marti, Rebecca Solnit oder, ein absolutes Highlight, mit der muslimischen Feministin Mona Eltahawy. Doch dem «Republik»-Projekt als Ganzem fehlt ein geschlechtergerechter Rahmen. Geschrieben wird immer wieder* nur in männlicher Form, in den Texten werden viele gescheite Männer von Immanuel Kant über Raymond Chandler bis zu David Graeber zitiert – wie bei anderen Medien auch, schreiben die Männer bei der «Republik» gerne über andere Männer. Hier wünschte man sich einen wirklich republikanischen Blick: einen, der alle miteinschliesst und reden lässt – neben den Frauen zum Beispiel auch jene 25 Prozent der Bevölkerung, die kein Wahl- und Stimmrecht haben.
Bigger than life
Bleibt noch das Versprechen «No Bullshit». Der kam dann trotzdem – zwar nicht in den Artikeln, aber in Form des Newsletters. Mit «Ladies and Gentlemen» beginnt der Brief an die VerlegerInnen, der mit seiner Länge und seinen verschwurbelten Formulierungen fast schon Kultstatus erlangt hat. Da wird die Redaktion mit einem Ozean verglichen, die Frage gestellt, ob die Vernunft, dieses «zarte Pflänzchen», auf dem Komposthaufen der Geschichte liege, und man liest: «Das Herz träumt und lullt den Verstand ein.»
So kündigte der Newsletter auch das neue Feuilleton an: «Was Kunst konstruiert, ist bigger than life.» Dieses ging im September online, finanziert von drei Stiftungen und unter der Leitung von Daniel Binswanger und der ehemaligen NZZ-Theaterkritikerin Barbara Villiger Heilig. Vor kurzem ist noch der bisherige Literaturagent Daniel Graf dazugestossen. Und natürlich wurde auch das Feuilleton mit einem Manifest lanciert – das sich «Anti-Manifest» nannte. Die Kunst müsse verteidigt werden gegen die «Zumutung, Antworten bereitzustellen, anstatt sich auf Rätsel einzulassen», schreibt Binswanger und fragt: «Gibt es, bei Lichte besehen, ein traurigeres Oxymoron als das ‹politische Feuilleton›, so, wie es heute gelebt wird? (…) Kunst lebt von ihrer Unverfügbarkeit – Kritik von der Grosszügigkeit des Raums, in dem sie reflexiven Auslauf hat.»
Grosszügig ist auch der Raum, in dem über Kultur reflektiert wird – was höchst erfreulich ist. Es gibt längere Essays und viele Besprechungen, zum Teil auch im Audio- und Videoformat. Die Beschränkung auf klassische Rubriken wie «Klang», «Theater», «Poesie & Prosa», «Film» und «Kunst» wirkt etwas altbacken, die Auswahl der rezensierten Werke zum Teil beliebig. Doch was das Onlinefeuilleton auch möglich macht, zeigt das schönste Stück dieses Jahres: die dreiteilige Poesievorlesung, die die Autorin Melinda Nadj Abonji im Literaturhaus Zürich gehalten hat. Diese konnte die «Republik» exklusiv in voller Länge publizieren, sowie als Audiodatei, gelesen von der Autorin selber.
Der Countdown läuft
Das erste Jahr ist bald um, der Countdown für die Erneuerung der Abonnemente läuft – erneuern weniger als fünfzig Prozent ihr Abo, muss die «Republik» laut eigenen Angaben radikal über die Bücher. Doch es ist ihr zu wünschen, dass sie das angestrebte Ziel von zwei Dritteln erreicht.
«Wir brauchen grosse Geschichten, die von grossen Menschen handeln», so kündigt die «Republik» den letzten «Preis der Republik» an, den sie jede Woche mit viel Pathos vergibt. Vielleicht verrät dieser Satz eines der grössten Missverständnisse, das in der Republik herumgeistert: Wir brauchen nicht grosse Geschichten von grossen Menschen. Wir brauchen Geschichten von Menschen. Die Grösse spielt keine Rolle.
* Nachtrag vom 27. Dezember 2018: In der Printversion sowie in der alten Onlineversion heisst es «Geschrieben wird nur in männlicher Form», was so jedoch nicht korrekt ist.