Binnen-I: Die Stämme gehören allen!
Vor dreissig Jahren hat die WOZ zum ersten Mal das Binnen-I verwendet. Anlass, einen Blick auf den aktuellen Stand (queer-)feministischer Sprachkritik zu werfen.
Sehr geehrte Zwitter/Innen
Obwohl ich mit dem inhaltlichen Angebot Ihrer Zeitung sehr zufrieden bin, verzichte ich entnervt auf ein neues Abo. Die idiotische Schreibweise, derer Sie sich bedienen, ist infantiler Unfug und konterkariert das hohe Niveau der Beiträge aufs blamabelste.
Unveröffentlichter Leserbrief an die WOZ
vom 7. November 1991
Was hatte den Mann so aufgebracht? Es war nur ein schmaler Strich in der Landschaft, ein grossgeschriebenes I mitten im Wort, das sogenannte Binnen-I, um sowohl Männer als auch Frauen zu bezeichnen. Eine Schreibweise, die mittlerweile so zur WOZ gehört wie die Farbe Gelb zur Post.
Dieser Tage ist es dreissig Jahre her, seit das Binnen-I erstmals in der WOZ verwendet wurde. Es sorgte damals für einigen Aufruhr. Freie Mitarbeiter weigerten sich, das Binnen‑I in ihren Texten zu verwenden, und drohten, ihre Artikel zurückzuziehen. Bis heute werden ab und an Abos gekündigt. Es sei unschön, unästhetisch, behindere den Lesefluss, lasse sich nicht aussprechen, verhunze die Sprache, von «Sprachvergewaltigung» war gar die Rede. Ausserdem könne Sprache nicht per Dekret von oben herab verändert werden. Die Argumente der GegnerInnen des Binnen-I sind bis heute die gleichen geblieben.
Geschlechtsreifes «I»
Doch wie kam das Binnen-I überhaupt zur WOZ? Im 1981 erschienenen Buch «Was Sie schon immer über Freie Radios wissen wollten, aber nie zu fragen wagten!» schrieb der Journalist Christoph Busch nicht von Hörer/innen, wie es damals üblich war, um beide Geschlechter anzusprechen, sondern von HörerInnen. Busch selbst bezeichnete es als «Geschlechtsreifung des ‹i›» und als «Auswachsen zum ‹I› infolge des häufigen Kontakts zum langen Schrägstrich».
Das Zürcher Alternativradio LoRa übernahm im November 1983 die Schreibweise für ein Inserat in der WOZ. Recht unauffällig noch pries sich LoRa als «HörerInnen-Radio» an. Am 9. Dezember 1983 erschien im redaktionellen Teil der WOZ ein Artikel über ebendieses Radio, in dem nicht nur von HörerInnen zu lesen war, sondern auch von MacherInnen. Wenig später übernahm die Berliner «tageszeitung» («taz») das Binnen-I. Fortan erschien es immer häufiger im gesamten deutschen Sprachraum, zunächst vor allem in linken Zusammenhängen, auf Flugblättern, in wissenschaftlichen Publikationen, heute auch auf Merkblättern der Verwaltung oder in Stellenanzeigen. Längst bietet es nicht mehr so oft Anlass zum Stolpern und Ärgern wie früher, der Lesefluss umfliesst es ohne grosse Turbulenzen, vielleicht wurde es gar schon etwas abgeschliffen, und manch eine vergisst wohl ab und zu seine eigentliche Relevanz.
Ein Leserbrief vom 8. August dieses Jahres des Schriftstellers Emil Zopfi bemängelt genau dies. Das Binnen-I, ein «Relikt des grammatischen Geschlechterkampfs», habe sich abgenützt: «Die Gross-I-Schreibung dient als Alibi, das gerechte Sprache vortäuscht, während Frauen inhaltlich viel weniger sichtbar sind als Männer. Es ist sicher bequemer, immer wieder mal ein grosses I einzufügen, statt die Namen von Frauen zu recherchieren, die in der Sache eine Rolle spielen, und ihnen im Inhalt mehr Raum zu geben.»
Die feministische Sprachwissenschaftlerin Luise F. Pusch hat jedoch nichts dagegen einzuwenden, wenn das Binnen-I zur Konvention wird: «Es geht in erster Linie darum, Frauen sichtbar zu machen.» Das Binnen-I dient als Instrument gegen das ewige Mitgemeintsein im generischen Maskulinum, das nach wie vor viel verbreiteter ist als das Binnen-I oder andere Formen geschlechtergerechter Sprachregelungen. Luise F. Pusch, die 1987 aktiv an einer vollständig feminisierten WOZ-Ausgabe mitarbeitete, schweben denn auch tiefer greifende Reformen der deutschen Sprache vor. Sie spricht von einem Mehrstufenmodell: So sollen zunächst Frauen konsequent in der Sprache sichtbar gemacht werden, am besten durch das generische Femininum wie in der feminisierten WOZ-Ausgabe. Männer wären demnach immer mitgemeint, wenn von Lehrerinnen, Chefinnen oder Radrennfahrerinnen die Rede ist.
In einem nächsten Schritt sollen die Endungen -in und -innen abgeschafft werden. «Ich möchte mich als Frau nicht mit einer Endung begnügen müssen. Es hiesse dann sowohl ‹der Arzt› als auch ‹die Arzt›», so Pusch. «Wir Frauen müssen die Wortstämme besetzen.» Ausserdem soll für Personenbezeichnungen das Neutrum eingeführt werden: «Sodass in einer Stellenanzeige beispielsweise ‹ein Professor, das sich mit feministischer Theorie auskennt› gesucht würde.» Das Neutrum würde zusätzlich aktiviert für Personen, die sich keinem Geschlecht zuordnen lassen oder wollen. «In letzter Konsequenz können wir dann auch über die vollständige Abschaffung des Genus nachdenken. Zum Beispiel durch die Einführung geschlechtsneutraler Pronomina.» Solche Bestrebungen gibt es bereits andernorts, beispielsweise in Schweden, wo die Einführung des geschlechtsneutralen Pronomens «hen» diskutiert wird, das seit 2009 in der Nationalenzyklopädie eingetragen ist.
BankerInnen und AbzockerInnen
Die Differenz zwischen Maskulinum und Femininum macht sich im Schwedischen nur bei den Pronomen geltend. «Im Deutschen ist es schon einiges komplizierter», sagt Steffen Kitty Herrmann, wissenschaftlicher Mitarbeiter am philosophischen Institut der Fernuniversität Hagen und Queer-Aktivist. «Den Satz ‹Er ist ein guter Freund› müssen wir an vier Stellen an das Geschlecht anpassen. Wir haben einen regelrechten Genderschlamassel in der deutschen Sprache.» Steffen Kitty Herrmann führte 2002 im Aufsatz «Performing the Gap. Queere Gestalten und geschlechtliche Aneignung» die Schreibweise mit dem Unterstrich ein: also, um beim gängigen Beispiel zu bleiben, nicht «HörerInnen», sondern «Hörer_innen». Der Unterstrich lässt hier Raum für Menschen uneindeutiger Geschlechtsidentität. «Der Unterstrich ist ein positiv besetzter Ort, um sich zu artikulieren», so Herrmann. «Es geht darum, der zweigeschlechtlichen Ordnung etwas entgegenzusetzen, sie zu hinterfragen.» Und gleichzeitig ebenfalls um das Sichtbarmachen in der Sprache, diesmal von queeren, intersexuellen oder Transgendermenschen.
Luise F. Pusch und Steffen Kitty Herrmann sind sich einig, dass es sich dabei um eine grundsätzlich andere Problemstellung handelt als jene, die dem Binnen-I zugrunde liegt. Pusch schreibt dazu auf ihrem Blog «Laut und Luise»: «Frauen sind in der Männersprache (Deutsch, Anm. d. Red.) nicht unsichtbar, sondern untergeordnet. Wie Eva aus Adams Rippe wird die weibliche Bezeichnung aus der männlichen abgeleitet.» Um queere Personen grammatisch im deutschen Sprachsystem sichtbar zu machen, brauche es daher keinen Unterstrich, sondern in erster Linie neu geschaffene Pronomen. «Die Schreibweise mit Unterstrich ist eine Übergangsform», erwidert Steffen Kitty Herrmann. «Sie ist ein Sammelbecken für all jene, die sich keinem der beiden bestehenden Geschlechter zuordnen möchten und dadurch ein wichtiges Instrument, um unsere zweigeschlechtliche und männlichkeitsdominierte Sprache zu überwinden.» Dabei sei jedoch immer auf den Kontext zu achten. Ebenso beim Binnen-I: Ist es sinnvoll, von BankerInnen oder AbzockerInnen zu sprechen? In den oberen Etagen der Banken sind kaum Frauen zu finden, die Finanzwelt ist auch im 21. Jahrhundert eine Männerwelt. Luise F. Pusch sagt dazu: «Wenn wir uns für das Binnen-I starkmachen und es verwenden, müssen wir auch die Konsequenzen tragen. Ich sage immer: Frauen sind zu allem fähig.» Allerdings würden auf diese Weise auch Hierarchien verschleiert, weshalb es je nach Kontext durchaus angebracht sei, auf die Binnen-I-Schreibung zu verzichten.
Sprache ist politisch
Sowohl Unterstrich- als auch Binnen-I-Schreibweise werden oft als unschön bezeichnet. «Ästhetik ist zweifelsohne sehr wichtig», sagt Luise F. Pusch. «Doch wenn ich mich zwischen Ästhetik und Gerechtigkeit entscheiden muss, dann gewinnt eindeutig die Gerechtigkeit.» Auch führen die GegnerInnen beider Schreibweisen oft an, dass Sprache nicht per Dekret von oben herab verändert werden könne. Dabei sind sie in beiden Fällen an der Basis entstanden, in (queer-)feministischen Kreisen, die wahrlich nicht das Zentrum der Sprache bestimmenden Macht bilden.
Das Beharren auf sprachlichen Konventionen stellt zudem einen ebenso politischen Akt dar wie die Forderung, diese zu ändern. «Sprache ist höchst politisch», sagt Steffen Kitty Herrmann. Die berühmte Fussnote am Anfang eines Textes, die rechtfertigt, dass nur die männliche Form gebraucht wird, Frauen aber selbstverständlich mitgemeint seien, vermittle ein falsches Bild von Sprache. «Denn Sprache ist historisch gewachsen, in unserem Fall in einer männlich dominierten Gesellschaft entstanden und ruft dementsprechende Kontexte wach.» So sei erwiesen, dass selbst bei neutralen Formulierungen wie «Mitarbeitende» mehr an Männer als an Frauen gedacht werde. «Sprache hat durchaus auch eine produktive Funktion. Sie präsentiert und repräsentiert», sagt Herrmann. «Natürlich kann Sprache allein nicht die Welt verändern, dafür braucht es viele verschiedene Praktiken. Doch Sprache ist eben eine davon.»