Fussball und andere Randsportarten: Daumen rauf und runter
Zur Debatte über den Fussballer Thomas Hitzlsperger
Wir sind dran, zu einer Daumengesellschaft zu mutieren. Seit die Möglichkeit besteht, fast jeden Artikel im Internet mit einem einzigen simplen Klick auf ein Daumensymbol zu bewerten, reduziert sich das Urteilsvermögen einer ganzen Weltbevölkerung allmählich auf die beiden Möglichkeiten «gefällt mir» und «gefällt mir nicht».
Noch lamentabler als die geistige Beschränktheit auf nur noch zwei mögliche Urteile dünkt einen freilich der Umstand, dass bald alle Menschen glauben, jede Regung eines Mitmenschen überhaupt beurteilen zu müssen. Der nach oben oder nach unten gerichtete Daumen brennt sich in unsere trägen Köpfe ein.
Vor einigen Tagen hat der ehemalige deutsche Fussballstar Thomas Hitzlsperger öffentlich bekannt gemacht, dass er auf Männer steht. Seither sind nicht bloss die Sportmedien voller Berichte über Schwule und Fussball. Die weltweite Berichterstattung über Hitzlspergers Homosexualität lässt sich auf wenige Hauptaussagen reduzieren: Fussball ist grundsätzlich schwulenfeindlich («gefällt uns nicht»), Thomas Hitzlspergers Coming-out ist mutig («gefällt uns»), schade, dass er sich erst nach seiner Karriere geoutet hat («gefällt uns nicht»), aber wenigstens hat er es getan («gefällt uns») und damit vielleicht andere Fussballer ermutigt, zu ihrer Homosexualität zu stehen («gefällt uns»), deshalb hoffen wir nun voller Zuversicht auf Nachahmer aus der Welt des Spitzenfussballs («gefällt uns»).
Thomas Hitzlsperger war viele Jahre lang Profifussballer in den obersten Ligen Englands, Deutschlands und Italiens. Er hat ausserdem über fünfzig Mal für die deutsche Nationalmannschaft gespielt. JournalistInnen haben sich in den letzten Jahren nie um die sexuellen Präferenzen von Thomas Hitzlsperger gekümmert. Aber jetzt, wo er über sich und seine Homosexualität spricht, sind alle sehr flink im Bewerten dieses öffentlichen Vorgangs. Auf einmal wimmelt es offenbar von Expertinnen und Experten zum Thema «Fussball und Homosexualität». Und besonders auffällig dabei ist die Tatsache, dass alle recht detailliert Bescheid zu wissen scheinen.
Eigenartig an der internationalen Hitzlsperger-Berichterstattung ist allerdings die Selbstverständlichkeit, mit der die KommentatorInnen Thomas Hitzlsperger für sein Coming-out rühmen, und wie viele ihn gleichzeitig dafür tadeln, dass er erst nach seiner aktiven Karriere redet. Daumen rauf, Daumen runter.
Das Muster wiederholt sich. In Kneipen, im Zugabteil, auf der Arbeit, wo immer das Thema jetzt erörtert wird, höre ich Beurteilungen über den Menschen Hitzlsperger. Er sei mutig und doch nicht mutig. Er sei offen und doch nicht offen. Er habe einen strammen Schuss gehabt. Man habe ihm das Schwulsein gar nicht angemerkt. Alles ist Bewertung. Selbst ehemalige Mitspieler werden befragt, und was sie sagen, ist ebenfalls wertend. «Eine mutige und richtige Entscheidung», sagt sein ehemaliger Nationalmannschaftskollege Lukas Podolski. «Ich werde ihm schreiben und zu seinem Schritt gratulieren», lässt sein Exteamkollege Ludovic Magnin verlauten.
Wer das alles liest und hört, kommt kaum umhin, sich zu fragen, ob Thomas Hitzlsperger auf die vielen nach oben oder unten gestreckten Daumen nicht gerne verzichten würde. Es ist ja durchaus denkbar, dass Hitzlsperger bei seinem Coming-out gar nicht auf Bewertung aus war, sondern auf Aufklärung oder auf Akzeptanz und Normalität.
Die Diskussion darüber, weswegen sich der (Männer-)Fussball so schwer tut mit Homosexualität, ist sicher überfällig. Die Diskussion liesse sich selbstverständlich auch auf andere Lebensbereiche ausdehnen. Aber sie kann auch ohne Daumen im Kopf geführt werden. Schwule sind nicht schwul, um von ihren Mitmenschen dafür gerühmt oder getadelt zu werden. Sie sind es einfach.
Pedro Lenz ist Schriftsteller und lebt in Olten. Über Thomas Hitzlsperger weiss er nichts, was nicht schon alle wissen.