Ungarn : Per Verfassung gegen Obdachlose
«Die Stadt gehört allen» ist gleichzeitig Name und politisches Programm einer Gruppe ungarischer AktivistInnen und Obdachloser, die zu internationalen Aktionstagen zwischen dem 13. und dem 15. Februar aufruft. Die in Budapest aktive Gruppe organisiert politische Kampagnen, soziale Projekte und Bildungsmöglichkeiten für Obdachlose – und wehrt sich mit zivilem Ungehorsam und Demonstrationen gegen die zunehmende Kriminalisierung.
Dass die ungarischen Städte nicht allen gehören, dafür sorgt unter anderem eine Gesetzesänderung vom Oktober 2013. Das Gesetz verbietet es Menschen, sich an denkmalgeschützten Orten – etwa im gesamten Zentrum Budapests – «auf lebensführende Weise» aufzuhalten. Zudem überlässt es Stadtregierungen die Möglichkeit, weitere solche Zonen zu definieren. Die Budapester Regierung reagierte umgehend, und schon einen Monat später wurden neue Zonen hinzugefügt. In der Hauptstadt dürfen sich seither Obdachlose nicht mehr in der Nähe von Haltestellen des öffentlichen Verkehrs, von Einrichtungen für Kinder oder in Unterführungen aufhalten. Wer dagegen verstösst, wird zu Gemeinschaftsarbeit, einer Geld- oder Gefängnisstrafe verurteilt.
Noch im November 2012 befand das Verfassungsgericht die Vertreibung Obdachloser von öffentlichen Plätzen als verfassungswidrig und deklarierte Obdachlosigkeit als soziales Problem. Kurz darauf ermöglichte Ministerpräsident Viktor Orban die Kriminalisierung mit einer Verfassungsänderung. Obdachlos zu sein, bedeutet seither nicht bloss, kein Dach über dem Kopf zu haben, sondern auch per Verfassung staatlicher Repression ausgesetzt zu sein. Statt eines Kampfs gegen Obdachlosigkeit wird ein Kampf gegen die Obdachlosen geführt – ein weiteres Element in Orbans rechtskonservativem Kurs, der sich besonders gegen Minderheiten und sozial Schwache richtet.
Die Ursachen der Obdachlosigkeit liegen hauptsächlich in der Wohnungsversorgung. Seit der Privatisierung des Wohnungsbestands nach dem Zerfall der Sowjetunion gibt es praktisch kein staatliches Wohnungsprogramm mehr: Gemäss Zensus 2011 machen die staatlichen Wohnungen bloss noch drei Prozent des Bestands aus. Gleichzeitig stehen in Budapest 120 000 Wohnungen leer, während die etwa 10 000 Obdachlosen von der Strasse vertrieben werden.