«The Spirit of ’45»: Was nur gemeinsam erreicht werden kann
Ken Loachs neuer Dokumentarfilm ist eine Hymne auf die radikale Politik der Labour-Partei nach dem Zweiten Weltkrieg. Und ein Aufruf zu kollektivem Handeln.
1945, der Krieg in Europa war vorbei, der Faschismus besiegt. Zu Hunderttausenden kehrten britische Soldaten von den Schlachtfeldern zurück, froh, dem Gemetzel entkommen zu sein, und sich einig, dass sich alles nicht mehr wiederholen darf: «Nie wieder Krieg», aber auch keine Rückkehr zum Frieden der 1930er Jahre mit seiner hohen Arbeitslosigkeit, der Wohnungsnot, dem Massenelend.
Und so stimmten bei der Unterhauswahl zwei Monate nach Kriegsende nicht nur die Arbeiterklasse, sondern auch ein Teil des liberalen Bürgertums für die Labour-Partei, die grundlegende Reformen versprochen hatte. Das Ergebnis verblüffte alle: Die meisten hatten einen Erfolg des konservativen «Kriegshelden» Winston Churchill erwartet, niemand rechnete mit einem Erdrutschsieg der Arbeiterpartei von Clement Attlee. Fast 200 Mandate mehr als die Tories, damit konnte man was anfangen.
Was folgte, war für britische Verhältnisse revolutionär. Labour hielt sich an die Zusagen und krempelte die Gesellschaft um. Die Partei verstaatlichte die Schlüsselindustrien: die Eisenbahnen, die Häfen, den Flugverkehr, die Werften, die Zechen, die Stahlwerke, die Strom-, Gas- und Wasserfirmen. Sie führte den steuerfinanzierten National Health Service (NHS) – das staatliche Gesundheitswesen – ein, investierte in das Bildungswesen, baute den Wohlfahrtsstaat aus und legte ein gigantisches Programm zum Bau erschwinglicher Sozialwohnungen auf. Dabei war der Staat pleite gewesen.
Sprung nach vorn
Wie das damals war, welche Stimmung Labour 1945 zum Wahlsieg verhalf, wozu der kollektive Aufbruch die Gesellschaft befähigte – und was die Konservativen unter Margaret Thatcher ab 1979 daraus machten: All das zeigt Ken Loach, der Altmeister des realistischen Kinos, in seinem neuen Film. Für «The Spirit of ’45» hat er in Bildarchiven graben lassen, rund drei Dutzend ZeitzeugInnen alter und neuer Kämpfe befragt und das Material zu einer schnellen, sehr eindrücklichen, zuweilen etwas nostalgisch anmutenden Szenenfolge montiert. Alte ArbeiterInnen berichten von den verheerenden sozialen Zuständen vor 1945 und was die Reformen für sie bedeuteten. Ärzte und Pflegerinnen betonen, wie fortschrittlich und effizient der kostenlose NHS über Jahrzehnte hinweg war. Ökonomen erläutern die Zusammenhänge, GewerkschafterInnen sprechen von den grossen Hoffnungen, die sie seinerzeit hegten, und jüngere AktivistInnen schildern, wie desaströs Thatchers Konterrevolution war, die vier Jahrzehnte später vieles wieder rückgängig machte.
Was trieb Loach dazu, diese alte Geschichte aufzugreifen? Sie sei weitgehend in Vergessenheit geraten und drohe, «zu einer Fussnote des Thatcherismus zu verkommen», sagte er in einem Interview. Das mag ja sein. Doch Loach – der mit «Carla’s Song» (1996) die Intervention US-gesteuerter Contras im sandinistischen Nicaragua thematisierte, mit «Bread and Roses» (2000) den Kampf unterbezahlter US-ArbeiterInnen zeigte, mit «It’s a Free World» (2007) das Elend der neuen TagelöhnerInnen in Britannien darstellte oder mit «Route Irish» (2010) das Schicksal britischer Söldner im Irakkrieg erzählte – agiert viel zu aktuell und politisch, als dass er sich mit simplen Erinnerungen begnügen würde.
Pointiert ist seine Botschaft auch diesmal. Denn zurzeit demontieren Thatchers Erben an der Regierung die Reste dessen, was 1945 geschaffen wurde, in einem atemberaubenden Tempo. Die Wohnungsnot grassiert wieder, die Armen werden drangsaliert, die Löhne sind in den letzten zehn Jahren um durchschnittlich zwanzig Prozent gesunken, der NHS – immer noch populärer als die Queen – wird Stück für Stück verhökert, und zuletzt hat das konservativ-liberale Kabinett die staatliche Royal Mail auch noch halb verschenkt.
Labours Defizite
Loachs Film ist ein flammender Appell: Verteidigt zumindest den NHS! Weniger scharf gerät ihm allerdings die Kritik am «grossen Experiment des Sozialismus in einer Demokratie», wie der frühere Labour-Minister Herbert Morrison die Reformpolitik nannte. Warum wurde Labour schon 1951 abgewählt? Wieso konnte sich 1979 Thatcher durchsetzen? Ein paar Hinweise gibt es zwar, aber sie kommen beiläufig daher. Im staatlichen Bergbau hätten Tyrannen den Ton angegeben, klagt ein Miner. Die Nationalisierung sei zentralistisch, von oben herab erfolgt, kritisiert der langjährige Labour-Minister Tony Benn. Es habe keine Arbeiterkontrolle gegeben, keine Mitsprache, keine öffentliche Beteiligung, moniert der Autor und Politaktivist John Rees. Sozialistisch war Labours Politik also nicht.
Was den fast durchweg schwarz-weiss gehaltenen Film trotzdem überaus sehenswert macht, sind zum einen die Aussagen der ZeitzeugInnen, ihr Engagement und Enthusiasmus. Und zum anderen eine simple Tatsache: Als Labour die Reformen begann, war Britannien ruiniert; der Krieg hatte Devisenreserven und Anlagevermögen aufgefressen, die Staatsschuld machte mehr als 200 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus, lag also weit über der von Griechenland heute; trotzdem investierte die Regierung, statt zu sparen; wenige Jahre später gab es den Schuldenberg nicht mehr. Allein schon das macht «The Spirit of ’45» zu einem Pflichtfilm für ÖkonomInnen.
Ab 30. Januar 2014 in den Kinos.
The Spirit of ’45. Regie: Ken Loach. Britannien 2013. Dokumentarfilm