Bosnien und Herzegowina: Bosnischer Frühling oder Ethno-Nationalismus?
Unruhen werfen ein Schlaglicht auf die Situation im Land. Ob sie das System von Klientelismus und Misswirtschaft aufzubrechen vermögen, ist fraglich.
Es begann am 5. Februar 2014 mit einer Demonstration in Tuzla. In den letzten Jahren waren in der nordostbosnischen Industriestadt vier Grossbetriebe unter dubiosen Umständen privatisiert und in den Bankrott getrieben worden. GewerkschaftsvertreterInnen und Angestellte der Reinigungsmittelfabrik Dita berichten, die neuen EigentümerInnen hätten ihre Firma systematisch ausgeschlachtet und die Produktionskapazitäten vernichtet. Den ArbeiterInnen wurden über Monate hinweg keine Löhne gezahlt, sie waren nicht mehr krankenversichert und wurden schliesslich auf die Strasse gestellt.
Was als friedlicher Protest begann, eskalierte bald zu gewaltsamen Unruhen, die auch auf Städte wie Zenica, Bihac, Mostar und die Hauptstadt Sarajevo übergriffen. Dabei kam es zu Angriffen auf Institutionen der Regionalverwaltung und Strassenschlachten mit den Sicherheitskräften. Verschiedentlich ist bereits der «bosnische Frühling» ausgerufen worden.
Diese schwersten Ausschreitungen seit Kriegsende werfen ein Schlaglicht auf die soziale Situation in Bosnien. Die Arbeitslosigkeit liegt seit Jahren bei über vierzig Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit ist noch höher. Ein Fünftel der 3,8 Millionen BosnierInnen lebt in Armut, viele leiden Hunger. Das System ist geprägt von Kriminalität, Misswirtschaft und Korruption. Aussichten auf Verbesserung der Situation gibt es kaum. Diese strukturellen Bedingungen sind keine bosnische Besonderheit. Andere Länder in der Region, darunter auch EU-Mitglieder, kämpfen mit ähnlichen Problemen. Entsprechend kam es in den letzten Jahren auch in Slowenien, Kroatien, Serbien, Bulgarien oder Rumänien zu sozialen Protestaktionen.
Eine Republik und eine Föderation
Die Besonderheit Bosniens liegt anderswo begründet. Als Jugoslawien Anfang der neunziger Jahre gewaltsam in Nationalstaaten zerfiel, verfügte keine der bosnischen «Nationalitäten» – weder die (muslimischen) BosniakInnen noch SerbInnen oder KroatInnen – über eine absolute Bevölkerungsmehrheit. Im Bürgerkrieg versuchten die Parteien mit Vertreibungen und Morden die von ihnen beanspruchten Territorien «ethnisch» zu «säubern». Mit Erfolg: Durch das Abkommen von Dayton wurde zwar Bosnien als Gesamtstaat erhalten. Das Land wurde allerdings entlang der Frontlinien in zwei Entitäten, die Serbische Republik und die (bosniakisch-kroatische) Föderation Bosnien und Herzegowina geteilt. Letztere ist nach Schweizer Vorbild in Kantone gegliedert.
Bis heute ist das Land entlang dieser ethnischen Demarkationslinien gespalten. Zwischen den Bevölkerungsgruppen besteht wenig Austausch. Die tonangebenden ethno-nationalistisch orientierten Parteien bewirtschaften die Gegensätze, schüren Konflikte und blockieren das staatliche Gemeinwesen. Die Vergabe von Ämtern auf allen Staatsebenen erfolgt nach einem komplexen, auf ethnischen Kriterien beruhenden Schlüssel. Nicht nur politische Posten, auch die Stellen in den öffentlichen Diensten (andere Erwerbsmöglichkeiten sind rar) werden von den Parteien vorwiegend an ihre eigene Klientel vergeben. Die bosnische Politik interessiert sich nicht für das Gemeinwohl.
Politische Verstetigung?
Entsprechend gross sind die Frustrationen über das politische Establishment, entsprechend heftig war die Wut der BürgerInnen, die in den Protesten zum Ausdruck kam. Schon im Juni 2013 war es zu spontanen Demonstrationen gekommen, als das Parlament sich unfähig gezeigt hatte, ein Gesetz zur Vergabe von Personalnummern zu verabschieden, weshalb über Monate hinweg keine neuen Identitätspapiere ausgestellt werden konnten. Als ein krankes neugeborenes Kind deshalb nicht für eine lebensnotwendige medizinische Behandlung ausreisen konnte, trugen Menschen in ganz Bosnien ihre Empörung auf die Strasse. Auch bei der aktuellen Protestwelle fällt auf, dass die Demonstrierenden sich explizit von nationalistischen Partikularinteressen abgrenzen. Dennoch blieb die Bewegung bisher vor allem auf die bosniakische Bevölkerungsgruppe beschränkt.
Die grosse Gefahr liege nun darin, dass die sozialen Proteste von den etablierten Parteien nach altbekannten ethno-nationalistischen Kriterien manipuliert und umgedeutet werden, warnt Boris Kanzleiter vom Regionalbüro Südosteuropa der linken Rosa-Luxemburg-Stiftung. Er bleibt skeptisch, ob sich die spontanen Protestaktionen zu einem politischen Projekt verstetigen können, um die festgefügten Strukturen endlich aufzubrechen. Immerhin habe die Heftigkeit des Aufstands wohl viele aufgerüttelt.