«Die Frau in mir»: Echte Nylonstrümpfe statt mentales Reissverschlusshochziehen
Mit Doppel-D-Büstenhalter und Stöckelschuhen: Christian Seidel kleidete sich zwei Jahre lang als Christiane. Doch die Frau im Manne blieb eine Männerfantasie.
Übergriffige Frauen, kokette Männer – gerade in der Fastnacht gehört das verrückte Spiel mit den Geschlechtern zur Normalität. Auch in der Welt der Topmodels hat die verkehrte Welt Einzug gehalten, etwa wenn das australische Model Andrej Pejic mit seiner schillernden Androgynität Herren- wie Damenmode präsentiert.
Im Rahmen eines fast zweijährigen, zeitweise von einem Filmteam begleiteten Selbsterfahrungsexperiments trug nun auch Christian Seidel Frauenkleider und hat seine Alltagserfahrungen in einem Buch beschrieben.
Raus aus der Rolle
Mit Anfang fünfzig bricht der ehemalige Manager aus dem «Rollenknast» aus, wie er es nennt, weil er sein früheres Leben, dieses «mentale Hosenzuknöpfen und Reissverschlusshochziehen», zu hassen begonnen hat. Der dröge Männeranzug erscheint ihm als ein stahlhartes Gehäuse der Männlichkeit. Befreit von der Schwere der Männerrolle und -kleidung, geniesst er die fantasievollen, leichten Kleider der Frauen. Aus einem Christian wurde eine Christiane.
Weil Männer ihre «innere Weiblichkeit» nicht zeigen geschweige denn leben dürfen, so Seidel, müssen sie sie verdrängen und ausgrenzen. Erst durch diese Abspaltung werde der Mann zum Mann. Seidel möchte seine «innere Weiblichkeit» endlich ausleben. Das ist kein neuer Gedanke: Die Anima, das Weibliche, im Manne zu entdecken, ermunterte schon Tiefenpsychologe C. G. Jung seine Geschlechtsgenossen. Erst so würden sie zu ganzen Menschen.
Welche Art von Weiblichkeit hat Christian Seidel aber nun entdeckt? Für ihn als Christiane öffnet sich die ihm als Mann bisher verschlossene und tabuisierte Welt des Femininen. Farbenfreudige Kleider aus feinen Stoffen, Schmuck und sinnliche Parfüms – das ist Neuland für die neu geschaffene Christiane, und sie vermitteln ihr einen sinnlicheren Bezug zur Welt. Es gebe viel «Stützung der Ansicht», schrieb Virginia Woolf in ihrem Roman «Orlando», «dass Kleider uns tragen und nicht wir sie; wir mögen sie zwingen, die Form unserer Arme und unserer Brust anzunehmen, sie aber werden unser Herz, unseren Geist, unsere Zunge nach ihrem Belieben formen». In der fiktiven Biografie wechselt ein junger englischer Adliger in seinem überlangen Leben zwar mehrmals die Garderoben und das Geschlecht – doch die Person, so die Quintessenz, bleibt dieselbe.
Ist Christian Seidel nun einE moderneR Orlando? Als Frau beginnt er, sich weicher und runder, verletzlicher, entspannter, freier und sinnlicher zu fühlen. Gewandet in der neuen zweiten Haut, hebt Christiane ab und lebt nun in «einem mysteriösen, paradiesischen und vor Lebendigkeit strotzenden Reich». Die von Frauen erlebte Realität, Objekt von Männerblicken, Berührungen und sogar sexualisierter Gewalt zu sein, erfährt er am eigenen Leib.
Rein ins Klischee
Einer indianischen Weisheit zufolge muss man in den Mokassins des anderen laufen, um ihn wirklich zu verstehen. Die Mokassins sind im seidelschen Experiment die High Heels. Zusammen mit Nylonstrümpfen, einem Minilederrock und einer blonden Langhaarperücke erweitern sie das Bewusstsein des früheren Chauvis. Perfekt geschminkt rundet Christiane ihr Styling zur sexy Lady ab. Dazu muss man wissen, dass Seidel vor zwei Jahrzehnten als ehemaliger TV-Manager in die Image- und Medienarbeit von Supermodels wie Claudia Schiffer involviert war. Das hat Spuren hinterlassen. Als Frau durchs Leben gehen, heisst, mit einem üppigen Busen zu protzen. «Wenn vorne nichts herumschwingt, ich nichts spüren würde, käme ich mir schnell wieder wie ein Mann vor.»
Mit Körbchengrösse 85 Doppel-D und 1,87 Meter Körperlänge lässt sich also leicht auf die anderen Frauen runterschauen. Es ist schwer vorstellbar, dass damit ein «Passing» möglich ist, also das unauffällige Leben einer Frau von Anfang fünfzig. Lakonisch diagnostiziert ein Arzt, dass Seidel mit seiner Aufmachung etwas an der Realität vorbeisurft.
Von einer ironischen Brechung der Identitäten oder gar einem Spiel mit ambivalenten Sexualitäten ist in Seidels Experiment jedoch nichts zu spüren. Christianes Ehefrau lehnt es vehement ab, mit einem feminisierten Mann eine sexuelle Beziehung zu führen, sie sei schliesslich nicht lesbisch. Sexuelle Lust auf Männer bleibt auch für Christian/e tabu. Während in Rollentauschfilmen wie «Viktor/Viktoria» oder «Manche mögen’s heiss» das Uneindeutige erotisch aufgeladen wird, bleibt bei den Seidels alles hübsch geordnet und streng heteronormativ. Die Revolte gegen das Zweigeschlechtersystem ist beiden fremd.
Zudem findet Christianes Praxistest ausschliesslich beim Shopping statt, in Bars und auf Partys. Als Frau einem Beruf nachzugehen, ist nicht Teil dieses Experiments. Mit ihrem sexy Outfit wäre sie unsanft auf eine Wirklichkeit jenseits ihres exzessiven Konsumalltags geprallt. Die alltägliche Gratwanderung von Frauen, sich weiblich und gleichzeitig kompetent zu kleiden – «dress for success» – erspart sich Christiane.
Was Seidel früher medial produziert hat, die Inszenierung des Femininen, hat er nun am eigenen Leib ausgelotet. Im Zentrum des Selbstversuchs stehen die Erkundung der «inneren Weiblichkeit» und das Ausleben männlicher Projektionen. Doch was ist eigentlich eine Frau? Hier wären Tausende von Modellen im Angebot, die harte Rockerfrau, die Lesbe, die Nerd-Mathematikerin, die toughe Geschäftsführerin – all diese Frauen tragen nicht oder nur gelegentlich Röcke und High Heels. Sie sind aus dem Rollenknast ausgebrochen, in den Seidel geschlüpft ist.