Die Linke im Umbruch: Die verwelkte Rose
Europas Sozialdemokratie ist im freien Fall, woran aller Voraussicht nach auch die deutsche Bundestagswahl diesen Sonntag nichts ändern wird. Haben sich die sozialdemokratischen Ideen überlebt?
Martin Schulz und seine SPD werden dieses Wahlwochenende dasselbe erleben wie ihre französischen GenossInnen im Mai: Sie werden absaufen. Wohl nicht so tief wie der Parti Socialiste, dessen Stimmenanteil von 41 auf knapp 6 Prozent sank. Doch sie werden verlieren.
Der Trend ist nicht neu. Er begann 2009 mit der SPD, als diese nach elf Jahren in der Regierung von 34 auf 23 Prozent absackte. 2010 wurde der britische Premierminister Gordon Brown abgewählt, 2011 fiel der Stimmenanteil der PSOE in Spanien von 44 auf 29 Prozent, 2012 jener der Pasok in Griechenland von 44 auf 13 Prozent. Seither ist von der «Pasokifikation» der Sozialdemokratie die Rede. Nun muss auch die SPD – die es 2013 immerhin wieder auf 27 Prozent geschafft hatte – damit rechnen, auf 20 Prozent zu sinken.
Geht es den Leuten einfach zu gut?
Eine verbreitete Erklärung für den Niedergang der Sozialdemokratie ist der Erfolg des Wohlfahrtsstaats: Den Menschen gehe es so gut, dass es die Sozialdemokratie nicht mehr brauche.
Zwar drang die Sozialdemokratie just ab Mitte der sechziger Jahre an die Macht vor, als der Wohlfahrtsstaat weitgehend stand. Dieser war vor allem von bürgerlichen Politikern errichtet worden – unter dem Druck einer weltweit erstarkten Linken. 1964 kam die Sozialdemokratie in Britannien nach dreizehn Jahren in der Opposition mit Harold Wilson an die Regierung, 1969 folgte Willy Brandt in Deutschland, 1981 François Mitterrand in Frankreich. Gleichzeitig läutete diese Zeit jedoch den Niedergang ihrer linken Forderungen ein: Die Parteien sagten sich von ihrem Kampf um wirtschaftliche Gerechtigkeit los.
Den Anfang machte Mitterrand, als er 1983 den «tournant de la rigueur» verkündete, die Wende zu Sparpolitik und hohen Zinsen – auf Kosten der ArbeiterInnen. In den neunziger Jahren wurden dann Tony Blair in Britannien und Gerhard Schröder in Deutschland zu den neuen Helden dieses «dritten Wegs».
Tatsächlich war der Wohlfahrtsstaat – zusammen mit der Umwälzung des Kapitalismus – ein zentraler Grund für den Niedergang sozialdemokratischer Politik: Die ArbeiterInnenschaft ist geschrumpft, gleichzeitig ist eine neue, besser qualifizierte liberale Mittelschicht herangewachsen. Wie der Politologe Herbert Kitschelt 1994 in seiner klassischen Studie «The Transformation of European Social Democracy» gezeigt hat, versuchte die Sozialdemokratie, diese neue Schicht für sich zu erobern, indem sie einen wirtschaftlichen wie auch gesellschaftlichen Liberalismus propagierte.
Das ergänzte sich gut: Der europäische Binnenmarkt mit seinem freien Verkehr für Kapital, Güter, Dienstleistungen und Personen wurde im Namen der gesellschaftlichen Öffnung, der Bewegungsfreiheit und des Friedens verkauft.
Dieser Binnenmarkt war der zweite Grund für den Niedergang der sozialdemokratischen Politik. Denn er hat zur Entmachtung der Regierungen geführt. Wenn Investoren ihr Kapital über Nacht in ein anderes Land verschieben können, haben Regierungen kaum eine andere Wahl, als deren Wünsche zu erfüllen. Hier liegt auch die Ursache für Mitterrands Kehrtwende von 1983: Als er nach Amtsantritt seine Versprechen zunächst umzusetzen begann, etwa durch die Verstaatlichung von Schlüsselindustrien, zogen Investoren ihr Geld ab, der Franc purzelte immer weiter nach unten. Ziel der Kehrtwende war, das Kapital zurückzuholen.
Schulden erdrücken die Haushalte
Dreissig Jahre lang half die Sozialdemokratie so mit, Staatseigentum zu privatisieren, Steuern zu senken und Arbeitsmärkte zu deregulieren. Die Reichen profitierten, gleichzeitig führte dies bei der öffentlichen Hand und den privaten Haushalten zu immer grösseren Löchern. Diese wurden durch Schulden gestopft, die Vermögenden liehen dem Staat wie auch Privathaushalten Geld. 2008 jedoch konnten die Haushalte ihre Schulden nicht mehr bedienen – und die Banken gerieten ins Wanken. Die Staaten retteten die Finanzhäuser, indem sie sich weiter verschuldeten.
Europa stürzte in eine der grössten Finanzkrisen der Geschichte: Vor allem im Süden schoss die Arbeitslosigkeit in die Höhe, viele Leute landeten auf der Strasse.
Die Finanzkrise markierte zugleich die Rückkehr der alten sozialdemokratischen Forderung nach wirtschaftlicher Gerechtigkeit. Ab 2011 begannen überall in Europa junge Menschen, öffentliche Plätze zu besetzen – mit der Forderung nach einem gerechteren Wirtschaftssystem. All das, was lange verdrängt worden war, geriet plötzlich in den Blick – neben der Ungleichheit etwa die Situation des neuen Dienstleistungsproletariats, das die IndustriearbeiterInnen abgelöst hat: Putzfrauen, Telefonisten, Verkäuferinnen.
Es ist diese Renaissance sozialdemokratischer Forderungen, die den heutigen Niedergang der sozialdemokratischen Parteien eingeläutet hat: Die einen, wie etwa die SPD oder Labour, wurden kurz nach der Finanzkrise für ihre Wirtschaftspolitik an den Urnen abgestraft. Andere, wie etwa der Parti socialiste unter François Hollande, schafften es zwar, die neuen Forderungen aufzunehmen und sogar Wahlen zu gewinnen. Ihr Niedergang setzte dann aber ein, als sie es verpassten, ihre Versprechen umzusetzen. Sie wurden wieder abgewählt.
Ein Grund für ihr Scheitern liegt wiederum im Binnenmarkt: Als Hollande die Steuern für Superreiche erhöhen wollte, drohten Investoren, ihr Geld abzuziehen. Daraufhin senkte er die Firmensteuern und deregulierte den Arbeitsmarkt. Der zweite Grund liegt darin, dass die EU den Regierungen die Macht entzogen hat, selber Geld drucken zu können: Als Griechenland 2010 in Zahlungsnot geriet, musste es von anderen EU-Mitgliedern einen Kredit aufnehmen, der mit scharfen Sparauflagen verknüpft war. Pasok-Ministerpräsident Giorgos Papandreou blieb nichts anderes übrig, als dem Diktat zu folgen, 2012 erhielt seine Partei die Quittung dafür.
Ein Teil der WählerInnen der SozialdemokratInnen wanderte ab zu neuen linken Parteien. Jean-Luc Mélenchons La France insoumise erhielt bei den Präsidentschaftswahlen in der ersten Runde 20 Prozent der Stimmen, die deutsche Linkspartei kommt laut Umfragen auf rund 10 Prozent, Podemos auf 21 Prozent. In Griechenland schaffte es Syriza 2015 mit Alexis Tsipras gar, die Regierung zu erobern.
Der Niedergang der SozialdemokratInnen hat jedoch noch einen weiteren Grund: Während sie ab den Siebzigern anfingen, den Liberalismus hochzuhalten, begann auf der anderen Seite des politischen Spektrums der Aufstieg des Rechtsnationalismus – 1983 schaffte der Front National seinen ersten Achtungserfolg. Nach der Finanzkrise bestimmten kurze Zeit wirtschaftliche Fragen die Agenda, dann jedoch kehrte der Kulturkampf zwischen Liberalismus und Nationalismus mit voller Wucht zurück. Die Debatten drehen sich um Europa, die Zuwanderung, den Islam.
WählerInnen an Rechts verloren
Einerseits verlieren die SozialdemokratInnen WählerInnen an die Neue Linke, weil sie die rechtsnationale Agenda teilweise übernehmen – wie etwa die SPD, die mit ihrer Migrationspolitik unter anderem libysche Milizen finanziert, damit sie MigrantInnen zurückdrängen. Andererseits verlieren sie an die Rechtsnationalen – die zudem sozialpolitisch nach links gerückt sind. In Frankreich sind gemäss einer Studie 66 Prozent der rechtsnational Wählenden ArbeiterInnen, in Britannien 60 Prozent – und auch die AfD ist die deutsche Partei mit dem höchsten Anteil an ArbeiterInnen.
Schliesslich verlieren die SozialdemokratInnen auch an die Bürgerlichen, die ihren «dritten Weg» weiterführen: Die SPD verlor 2009 fast eine Millionen WählerInnen an die CDU-Kandidatin Angela Merkel, die ihren harten Wirtschaftskurs mit der Einführung eines Mindestlohns abgefedert hat. Und in Frankreich sog der heutige Präsident Emmanuel Macron mit einem Cocktail aus harter Wirtschaftspolitik, gesellschaftlicher Offenheit und einer Prise Chauvinismus einen Teil der gut situierten PS-WählerInnen auf.
Die alte Sozialdemokratie liegt am Boden, doch bleibt der Ruf nach sozialer Gerechtigkeit ungebrochen: getragen von Parteien wie La France insoumise, Podemos oder auch der Labour Party, die unter Jeremy Corbyns Linkskurs kürzlich bei den Wahlen 40 Prozent der Stimmen erreichte. Die grosse Frage, vor der sie alle stehen: Wie ist es in einer globalisierten Welt mit freiem Kapitalverkehr möglich, linke Ideen durchzusetzen? Scheitern sie an dieser Herausforderung, werden auch sie pasokifiziert.