Zürich Hottingen: Freundlich hier, und doch so fremd

Nr. 16 –

In einem gehobenen Zürcher Stadtviertel, das seinen Nimbus auch vielen prominenten Flüchtlingen verdankt, schlägt ein SVP-Gemeinderat Alarm – wegen des Zuzugs von afrikanischen Flüchtlingsfamilien. Notizen eines Quartierbewohners.

Wo einst aus Deutschland geflüchtete Sozialdemokraten und Anarchistinnen flanierten: Beginn der Hottingerstrasse am Pfauen oberhalb des Bellevues.

Ausgerechnet hier also, in diesem doch eher gutbürgerlichen Quartier, fand ich eine zahlbare Wohnung – an der Asylstrasse. Der Schweizerische Verband der Pflegefachfrauen und -männer, dem das Haus gehört, in dem ich wohne, legt noch Wert auf Mietpreise, die sich auch weniger gut Verdienende leisten können.

Fragt mich jemand, wie es mir in Hottingen gefalle, fällt mir die Antwort schwer. Je weiter ich Richtung Zürich- oder Adlisberg hinaufgehe, wo die ganz Reichen residieren, desto mehr zeigt mir das Quartier seine kalte Schulter; weiter unten hingegen folge ich den Spuren erstaunlich vieler revolutionärer KünstlerInnen und Intellektueller, die hier einst Asyl gefunden haben.

Heute sind die ausländischen NeuzuzügerInnen vorwiegend TopverdienerInnen aus Deutschland oder den USA. Persönlich bin ich noch keinem von ihnen begegnet. Es scheint, als würden sie in einer Parallelwelt leben. Ihre Gesichter verstecken sich hinter getönten Scheiben, wenn sie in ihren teuren Karossen durch das Quartier steuern.

Und doch landen auch heute noch Menschen aus politischen Gründen in Hottingen. Ende Januar lag eine «Petition gegen ein Asylantenheim für 80 Personen in Zürich Hottingen» in meinem Briefkasten: «Die Bevölkerung aus Hottingen und Umgebung fordert den Stadtrat auf, den Entscheid zur Unterbringung von 80 Asylsuchenden und Asylanten rückgängig zu machen» – unter diesen Satz sollte ich meine Unterschrift setzen. Das zumindest legte mir ein Zürcher SVP-Gemeinderat namens Urs Fehr ans Herz.

Am 20. Januar, einen Tag bevor die ersten Flüchtlinge an der Sonnenbergstrasse 19 einziehen sollten, hatten MitarbeiterInnen der Asylorganisation Zürich (AOZ) 400 Infoflyer in die Briefkästen der Umgebung gestreut. Wenig später wurde bekannt, dass Fehr, der in Fluntern wohnt und in Hottingen früher ein Immobilientreuhandbüro führte, auch einen Antrag beim Quartierverein Hottingen angemeldet hatte: Präsident Martin Schmassmann müsse an der Generalversammlung zurücktreten. Sein Verhalten bei der Ankündigung der AOZ, dass an der Sonnenbergstrasse «Asylsuchende und Asylanten» einziehen würden, sei «absolut inakzeptabel».

Ein liberales Klima

Der Zuzug der Flüchtlinge hat mich veranlasst, mich mit der Quartiergeschichte zu beschäftigen. Die ersten politischen Flüchtlinge, die zwischen 1830 und 1848 hier lebten – so steht es in der Quartierchronik – kamen aus Deutschland. Es waren Revolutionäre des damaligen Vormärzes, die hier nach der bürgerlichen «Revolution» in Zürich (1830) ein liberales Klima vorfanden.

Am Römerhof: «Es gibt aber auch Tage, an denen ich einen Hauch von Urbanität atme.»

Damals lebten in Hottingen, dessen Hänge fast lückenlos mit Reben besetzt waren, vor allem noch BäuerInnen, Handwerker und Heimarbeiterinnen. Zugleich nahm mit der Schleifung der Stadtbefestigung ab 1830 und den Escherhäusern am Zeltweg, die Heinrich Escher-Zollikofer zwischen 1837 und 1840 errichten liess, die rasante Überbauung von Hottingen ihren Anfang. Immer mehr Intellektuelle aus Deutschland zogen ins Quartier: so etwa der Nationalrevolutionär August Adolf Ludwig Follen oder der Pädagoge Friedrich Karl Ludwig von Beust, der sich in der von Karl Fröbel begründeten Erziehungsanstalt Hottingen für die Emanzipation der Frauen engagierte. Auch der Schriftsteller Georg Büchner, der die letzten Monate seines Lebens 1836/37 im Niederdorf wohnte, wollte kurz vor seinem Tod in ein helleres Zimmer an der Wolfbachstrasse ziehen.

Der Aufschwung gegen Ende des 19. Jahrhunderts veränderte Hottingen. An die Stelle der Bauernhäuser traten biedermeierlich-klassizistische Villen, durch die englische Gartenstadt inspirierte Einfamilienhäuser (Englischviertelstrasse), Arbeiterhäuschen bei der oberen Asylstrasse und erste Wohnblocks. Neue Strassen liessen die Gemeinde lange vor der Eingemeindung von 1893 mit der Stadt zusammenwachsen. Immer mehr SchriftstellerInnen liessen sich hier nieder: Johanna Spyri und Gottfried Keller in den 1880ern in den Escherhäusern, Ricarda Huch ab 1887 an der Gemeindestrasse, Gerhart Hauptmann 1888 an der Freiestrasse, Frank Wedekind 1917 an der Schönbühlstrasse.

Von den Jahren ab 1933, als jüdische und antifaschistische EmigrantInnen das Schauspielhaus zu einer der besten Bühnen im deutschsprachigen Raum machten und auch der Schauspieler und Regisseur Leonard Steckel und seine Frau, die Sängerin, Tänzerin und Autorin Jo Mihaly, in Hottingen lebten, ist nicht mehr viel zu spüren. Zwar wohnen auch heute noch Intellektuelle im Quartier, darunter Schriftsteller wie Charles Lewinsky, Lukas Bärfuss oder bis vor kurzem der inzwischen verstorbene Urs Widmer. Ich bin also quasi umzingelt von Bestsellerautoren. Doch fehlt es an Lokalen, in denen sie sich treffen könnten, wie sie ihre VorgängerInnen im späten 19. Jahrhundert vorfanden.

Öffentlichkeit ist schwierig in Hottingen. Stattdessen: Brillante Diskretion – fast hundert Jahre nachdem auf Initiative von C. G. Jung an der Gemeindestrasse 27 der weltberühmte Psychologische Club gegründet wurde, wimmelt es von psychotherapeutischen Praxen.

Tee am Sonntagmittag

«Asylbewerber gehören nicht auf den Zürichberg», posaunte Urs Fehr im «Tages-Anzeiger». Eine doppelte Falschaussage: Erstens sind die BewohnerInnen an der Sonnenbergstrasse 19 bis auf wenige Ausnahmen keine BewerberInnen mehr, sondern langjährig anwesende Familien mit Flüchtlingsanerkennung oder einer vorläufigen Aufnahme. Die meisten Erwachsenen gehen einer Beschäftigung nach, die Schulkinder sprechen Schweizerdeutsch. Zweitens steht das Haus nicht am Zürich-, sondern am Adlisberg. Im Namen der Aufwertung jedoch werden Häuser am Adlisberg ungeniert als «Immobilien an Zürichberglage» inseriert – und damit auch der Eindruck erweckt, die Flüchtlinge würden in einer Zürichbergvilla residieren.

Eine «Zürichbergvilla»? Das Flüchtlingshaus an der Sonnenbergstrasse 19.

Es ist kein schönes Haus, in dem die etwa fünfzehn Familien aus Eritrea, Somalia, Äthiopien, Kamerun und Afghanistan wohnen, verglichen zumindest mit den Villen am Adlisberg. Ein abgenutztes Mehrfamilienhaus, das eigentlich bereits im Hirslandenquartier steht. Eigentümerin ist die Spross Liegenschaft AG, die im Hinblick auf eine Sanierung den bisherigen MieterInnen gekündigt hatte. Dereinst soll hier eine Neuüberbauung entstehen, die das Areal des benachbarten Werkhofs miteinschliesst, weshalb die Spross AG das Grundstück in einem Tausch der Stadt abtritt und die Liegenschaft bis dahin der Asylorganisation zur Verfügung stellt.

Eine der Familien aus Eritrea hat mich an einem Sonntag über Mittag zum Tee eingeladen. Ich überquere die Asylstrasse, gehe in die Hölderlinstrasse, die wegen der Holdersträuche am Adlisberg ursprünglich eigentlich Holderstrasse hiess, bevor sie dichterisch «aufgewertet» wurde.

Als ich das Wohnzimmer meiner GastgeberInnen betrete, flimmern Texte religiöser Lieder über einen Bildschirm. Drei der vier Kinder sind gerade in einer eritreisch-evangelikalen Kirche in Stettbach, wo sie für den Nachmittagsgottesdienst proben.

Zekarias und Saba Tekle (Namen geändert) erzählen auf Deutsch vom Krieg zwischen Äthiopien und Eritrea (1998–2000). Damals lebte die Familie noch in Äthiopien. Als eritreischstämmige ÄthiopierInnen wurden sie nach dem Krieg nach Eritrea abgeschoben. In der Hauptstadt Asmara bekamen sie später zusehends die Härte der eritreischen Diktatur zu spüren, auch deren rigides Vorgehen gegen Mitglieder evangelikaler Kirchen.

2008 flüchtete die Familie in die Schweiz. Im Rahmen eines gemeinnützigen Einsatzes engagiert sich Herr Tekle als Assistent eines Schulwarts; Frau Tekle arbeitet zweimal in der Woche als Betreuerin in einer Spielgruppe. Die drei jüngeren Kinder gehen in Fluntern in die Schule; der älteste Sohn schnuppert zurzeit als Metallschlosser und spielt in einem Fussballklub. Das Verhältnis zu den anderen Familien im Haus sei gut, vor allem unter den Kindern.

«Quartier Latin» von Zürich

«Am Tag, nachdem wir die Flyer in den Briefkästen verteilt hatten, meldeten sich einige doch sehr aufgebrachte Nachbarn», sagt Thomas Schmutz von der AOZ: «Gleichzeitig und vor allem auch in den Wochen danach erhielten wir viele beherzte Reaktionen. Bis heute kontaktieren uns Leute, die eine konkrete Unterstützung anbieten.»

Die Flüchtlinge, die im 19. Jahrhundert in Hottingen lebten, unterscheiden sich von den heutigen vor allem durch ihre Prominenz. Nachdem das Deutsche Reich 1878 das «Sozialisten-Gesetz» verabschiedet hatte, das bis 1890 jegliche Versammlungen und Druckschriften «sozialdemokratischer, sozialistischer oder kommunistischer Bestrebungen» verbot, setzten sich führende deutsche Sozialistinnen, Sozialdemokraten und Anarchistinnen nach Zürich ab. Beliebter Treffpunkt war die Wirtschaft zum Thaleck am Zeltweg 27. Nur wenige Schritte von der Druckerei des Schweizerischen Arbeiterbunds an der Kasinostrasse entfernt, wo zu dieser Zeit auch der deutsche «Sozialdemokrat» gedruckt wurde, diskutierten die Sozialdemokraten Herman Greulich und Wilhelm Liebknecht. Im Biergarten des benachbarten Kasinos unterhielten sich August Bebel und Verena Conzett, Frauenrechtlerin und erste Präsidentin des Schweizerischen Arbeiterinnenverbands.

Dass Hottingen schon früh zum «Quartier Latin» von Zürich aufstieg, verdankte das Quartier auch dem Lesezirkel Hottingen, den 1882 die Turnvereinskollegen Wilfried Treichler und Hans Bodmer gründeten. Ab 1886 begannen Hans und sein jüngerer Bruder Hermann, Vortragszyklen sowie literarische und künstlerische Abende zu organisieren. Die angehenden Literaturstudenten wollten «belehrende Unterhaltung» und das «Studium des politischen, sozialen, wissenschaftlichen und künstlerischen Lebens der Gegenwart» für «weite Kreise der Bevölkerung unentgeltlich zugänglich» machen.

Neu am Lesezirkel war die bunte Zusammensetzung: Eingesessene wie Zugewanderte, Fortschrittliche wie Konservative, Gelehrte wie HandwerkerInnen. Die Palette der geladenen AutorInnen reichte von Hugo von Hofmannsthal, Rainer Maria Rilke, Karl Kraus, Stefan Zweig und Alfred Döblin bis zu Else Lasker-Schüler, Paul Valéry, Thomas Mann, Ricarda Huch und Robert Walser. Anfang des Zweiten Weltkriegs musste der Lesezirkel wegen finanzieller Schwierigkeiten liquidiert werden.

Von 1889 bis 1897 lebte auch Rosa Luxemburg in Hottingen, zeitweise an der Plattenstrasse, an der auch viele russische Studentinnen wohnten (die Universität Zürich war damals eine der wenigen europäischen Universitäten, an der Frauen studieren durften). Überhaupt war Hottingen in diesen Jahren von vielen jungen Frauen bevölkert: Im Geviert um Zeltweg, Gemeinde- und Neptunstrasse befanden sich mehrere Privatinstitute und Pensionate für Töchter aus «guten Häusern» – ab 1840 war ein erster, bürgerlich geprägter Schub in die Frauenbildung gekommen.

Wegen der Nähe zu den Spitälern und nachdem um die Jahrhundertwende ob dem Römerhof die Schweizerische Pflegerinnenschule erbaut worden war, wohnten auch Pflegerinnen und Pflegeschülerinnen im Quartier. Bis heute verfügt Hottingen über erstaunlich viele Einrichtungen der allgemeinen Wohlfahrt: grosszügige Schulbauten, das Kinderspital sowie Alters- und Pflegeheime. Besonders dominant ist der Neubaukomplex auf dem einstigen Schulthess-Gut, das Heinrich Schulthess-von Meiss 1868 in die Stiftung Altersasyl zum Wäldli überführt hatte. Von daher auch der Name der Asylstrasse, an der ich wohne.

Die Nähe zur Natur

Vor dem Café Le Pain Quotidien am Römerhof treffe ich Mitte März, wenige Tage vor der Generalversammlung des Quartiervereins, Martin Schmassmann. Seit dreissig Jahren lebt der Parteilose in einem der Fierzhäuschen an der Fichtenstrasse, die der Industrielle Johann Heinrich Fierz um 1875 erbauen liess. Ursprünglich als Wohneigentum für Arbeiterfamilien gedacht, dienen sie schon seit langem dem Mittelstand – inzwischen vor allem dem oberen.

Mit seiner Pensionierung vor sechs Jahren übernahm Schmassmann, der einst aus Basel nach Zürich gezogen war, um als Redaktor beim Schweizer Fernsehen in der Spielfilmproduktion zu arbeiten, das Präsidium des Quartiervereins. Hottingens wunderbare Lage, die Nähe zur Natur sei «Segen und Fluch des Quartiers». Ein Fluch, weil darob oft vergessen werde, dass Hottingen ein Stadtquartier sei, in dem schon lange Menschen mit unterschiedlichsten Hintergründen gelebt hätten. Warum also, fragt Schmassmann, hätte er gegen den Zuzug von Flüchtlingsfamilien opponieren sollen?

Zumal es ja nicht die Flüchtlinge sind, die immer mehr Alteingesessene aus dem Quartier verdrängen, sondern die SpekulantInnen. Inzwischen ziehen selbst Ärzte und Gymnasiallehrerinnen aus dem Quartier weg, weil sie sich die Preise nicht mehr leisten können. «Wenn die Immobilienpreise weiter so steigen, leben hier am Ende fast nur noch Reiche», sagt Schmassmann.

Immerhin gehören noch immer rund siebzig Prozent der Wohnungen in Hottingen Privatpersonen, die oft selbst im Haus wohnen. Das ist mit ein Grund dafür, dass es noch einigermassen erschwingliche Wohnungen gibt. Und doch ist der Wandel unübersehbar. Eine, die diesen Prozess hautnah miterlebt und kritisch beobachtet, ist Elisabeth Joris. Seit dreissig Jahren lebt die Historikerin in einer fünf Wohnungen umfassenden Hausgemeinschaft beim Hottingerplatz. Zuvor noch, in den siebziger Jahren, als es in Hottingen noch richtige Spelunken wie die «Flora» an der Englischviertelstrasse gab, war mitten im alten Kern eine grosse Überbauung mit Einkaufszentrum geplant. «Da der Denkmalschutz intervenierte, sah sich die Stadt gezwungen, die renovationsbedürftige Häusergruppe zu kaufen, richtete darin Notwohnungen ein und hätte die Gebäude gern dem Meistbietenden verkauft», erinnert sich Joris. Doch unter dem Eindruck der Achtzigerbewegung fürchteten die Behörden politischen Widerstand und überliessen der von Joris mitbegründeten Wohngenossenschaft den Boden mit der geschützten Häusergruppe im Baurecht. Die Hausgemeinschaft richtete einen Mittagstisch für die eigenen und Kinder von FreundInnen aus dem Quartier ein und öffnete den Raum einmal wöchentlich für die Vorschule einer Kindertagesstätte. So konnten das Gebäude mitsamt seiner Umgebung bis heute der Spekulation entzogen und nachbarschaftliche Strukturen beibehalten werden.

Es gibt Tage, da komme ich mir wie ein Tourist im eigenen Quartier vor. Das Quartier, in das es mich verschlagen hat, ist der Raum, in dem ich verschwinde. In dieser Hinsicht unterscheide ich mich nicht so sehr von den Expats, die zwar die Fahrbahnen des Quartiers recht grossspurig in Anspruch nehmen, sich aber sonst kaum am Quartierleben beteiligen. Ob ich geistesabwesend flaniere oder verträumt in einem Strassencafé sitze: Meine Anwesenheit ist immer auch eine Abwesenheit.

Kantersieg im Hottingersaal

Es gibt aber auch Tage, an denen ich einen Hauch von Urbanität atme, diese Verheissung von strassenübergreifender Öffentlichkeit: Ich spaziere vom Römerhof die Klosbachstrasse runter, vorbei am Haus Nr. 88, in dem Kurt Guggenheim (1896–1982) wohnte, der mit «Alles in Allem» einen epochalen Zürich-Roman geschrieben hat – im selben Haus, in dem der Literaturnobelpreisträger Elias Canetti (1905–1994) seine letzten Lebensjahre verbrachte; vorbei am Restaurant Europa, in dem sich ab 1956 ungarische Flüchtlinge versammelten, und dem «Klosbächli», in dem sich heute tatsächlich noch eine Art Boheme trifft, tauche ich vor dem «Bohemia» in ein bunt gemischtes Feierabendpublikum ein.

Hier am Kreuzplatz, wo Hottingen, Hirslanden und Riesbach zusammenmünden, mischte sich die Bevölkerung schon Anfang des 20. Jahrhunderts weit mehr als in den oberen Teilen Hottingens. Inzwischen aber sind auch in diesen Blockrandbebauungen die Mietpreise gestiegen, auch jene der gemeinnützigen Dr.-Stephan-à-Porta-Stiftung an der Apollo- und der Hegarstrasse.

Am Montagabend, dem 24. März, kurz vor der Generalversammlung des Quartiervereins, mache ich einen Spaziergang durch den alten Dorfkern. Auf der Schaufensterscheibe der Buchhandlung am Hottingerplatz ertappe ich mein Spiegelbild. Und wieder durchfährt mich die Erkenntnis, dass ich in diesem Quartier nicht eigentlich vorhanden bin. Mein persönliches Vorhandensein liegt ausserhalb von Hottingen.

Gleich um die Ecke gehe ich an einem Coiffeursalon vorbei, in dessen Räumen früher die stadtbekannte Papeterie Pastorini geschäftete, in der Literaturnobelpreisträger Elias Canetti jeweils seine Bleistifte erstand. Kaum habe ich den Baschligplatz überquert, wähne ich mich an der Hofstrasse in einer dörflichen Idylle: Vor mir die pittoresken Häuschen, deren Kernbauten aus dem Jahr 1529 stammen – ehemalige Bauernhäuser, die im 18. Jahrhundert zu Wohnhäusern für Handwerker und ArbeiterInnen umgebaut wurden.

Im Hottingersaal des Gemeindezentrums sind inzwischen 140 QuartierbewohnerInnen versammelt, so viele wie seit Jahren nicht mehr. Vorwiegend Frauen und Männer zwischen fünfzig und siebzig Jahren – dieses quartierspezifisch liberal-soziale Bildungsbürgertum, wie es wohl schon zu Zeiten des Lesezirkels florierte. Was auffällt, ist die Absenz von Expats – und der ganz Reichen vom Zürichberg.

Mittendrin: Urs Fehr, der in militärischem Stakkato Schmassmanns Rücktritt fordert. Doch trotz der 450 Petitionsunterschriften, die er wenige Tage zuvor dem Stadtrat überreichte: Im Quartier selbst findet Fehr keine Gefolgschaft. 122 lehnen Schmassmanns Absetzung ab, zwei enthalten sich der Stimme, nur Fehr stimmt seinem eigenen Antrag zu. Kein einziges Lebenszeichen von «besorgten Quartierbewohnern». Es muss sich bei den 450 Unterzeichnenden hauptsächlich um BürgerInnen ausserhalb von Hottingen und der Stadt Zürich handeln, die Fehr mit Inseraten in diversen Medien zur Unterschrift animiert hat. Eloquente QuartierbewohnerInnen erheben ihre Stimme und kanzeln Fehr ab. Herbert Frei, Präsident des Quartiervereins Hirslanden, auf dessen Boden das besagte Haus eigentlich steht, betont: «Es braucht Stimmen, die Flüchtlinge willkommen heissen.»

Einige Wochen später fahre ich im Tram die Asylstrasse hinunter. Wie ich so dasitze und denke, dass das Tram vielleicht der öffentlichste Raum in ganz Hottingen ist, sehe ich durch die Fensterscheiben die Kinder, die ich nach meinem Besuch an der Sonnenbergstrasse im Treppenhaus angetroffen hatte. Ein Junge hält einen Ball unterm Arm. Bevor sie weitergehen, zum Spielplatz bei den Ilgen-Schulhäusern, winken wir uns kurz zu.

Literatur zum Thema:

Sebastian Brändli u. a.: «Hottingen. Von der ländlichen Streusiedlung zum urbanen Stadtquartier». Herausgegeben vom Quartierverein Hottingen. Zürich 2000.

Ute Kröger: «Zürich, du mein blaues Wunder. Literarische Streifzüge durch eine europäische Kulturstadt». Limmat Verlag. Zürich 2004.