Leonardo Padura: «Ketzer»: Spurensuche mit Rembrandt

Nr. 19 –

Nach seinem monumentalen Roman über Leo Trotzki hat sich der Kubaner Leonardo Padura erneut einen historischen Stoff vorgenommen. In «Ketzer» spannt er den zeitlichen Bogen sogar noch viel weiter – von Hollands Goldenem Zeitalter bis ins Kuba der Gegenwart.

Am 27. Mai 1939 lief der Dampfer MS St. Louis, aus Hamburg kommend, in Havanna ein. An Bord befanden sich 937 jüdische Flüchtlinge aus Deutschland, ausgestattet mit einem gültigen Visum für Kuba. Der Hafen von Havanna war in jenem Moment von Tausenden von Angehörigen, FreundInnen und Neugierigen bevölkert, die die Ankömmlinge erwarteten. Was noch niemand wusste: Kubas damaliger Präsident Federico Laredo Brú hatte kurzerhand die Visa der Flüchtlinge für ungültig erklären lassen.

Sechs Tage lag die «St. Louis» in Havannas Hafen, abgeschirmt von Polizei- und Militärbooten, ab und zu betraten Beamte der kubanischen Einwanderungsbehörde das Schiff, um zu verhandeln. Dann, am 2. Juni, wurde der Kapitän gezwungen, die kubanischen Hoheitsgewässer zu verlassen. Mit fast allen PassagierInnen an Bord – einige hatten inzwischen Suizid begangen, ein paar wenige hatten nach Zahlung horrender Bestechungssummen von Bord gehen können – musste das Schiff zurück nach Europa. In Antwerpen wurden die Flüchtlinge auf Lager in Belgien, den Niederlanden, Frankreich und Britannien verteilt. Sicher waren jedoch nur jene Glücklichen, die in Britannien Zuflucht gefunden hatten. Alle anderen wurden nur ein Jahr später, als Adolf Hitlers Kriegsmaschine Belgien, die Niederlande und Frankreich überrollt hatte, von den Nazischergen in die Vernichtungslager verschleppt und dort ermordet.

Diese wenig bekannte historische Begebenheit, eine der schwärzesten in Kubas Geschichte, dient Leonardo Padura als Prolog zu seinem neuen Roman «Ketzer», der in einem weiten Bogen durch vier Jahrhunderte und vier verschiedene Kulturen führt. «Was die Kubaner da mit den über neunhundert Menschen gemacht haben … dafür schäme ich mich», sagt im Roman ein alter Bekannter aus früheren Büchern Paduras. Es ist niemand anderes als Mario Conde, desillusionierter Expolizist und Hauptfigur zahlreicher Kriminalromane Paduras. Jetzt ist Conde vordergründig als Antiquar tätig und als gelegentlicher privater Ermittler ein unbestechlicher Beobachter kubanischer Befindlichkeiten.

Der verschollene Heiland

In «Ketzer» hört Conde die Geschichte der «St. Louis», die er zuvor nur bruchstückweise kannte, aus dem Mund des Malers Elias Kaminsky. Dieser ist aus Miami nach Havanna gekommen, um sich auf die Spuren seiner Familie zu machen. Kaminskys Vater Daniel war 1939 von seinen Eltern, polnischen Juden aus Berlin, nach Havanna geschickt worden. Bei einem schon länger nach Kuba ausgewanderten Onkel sollte er dort warten, bis seine Eltern mit der «St. Louis» nachkamen. Daniel Kaminsky sah seine Eltern nie wieder.

Wichtiger noch als die Erkundung der Familiengeschichte – und eng mit ihr verbunden – ist für Elias Kaminsky aber die Spurensuche nach einem Christusporträt von Rembrandt, das über Generationen im Besitz seiner Familie war und jüngst bei einer Auktion in London aufgetaucht ist. Die Grosseltern hatten das Bild wahrscheinlich auf der Überfahrt bei sich in der Hoffnung, damit allenfalls kubanische Beamte bestechen zu können.

Vielfältige Spiegelungen

Drei Jahre nach seinem monumentalen Leo-Trotzki-Roman «Der Mann, der Hunde liebte» hat Leonardo Padura mit «Ketzer» erneut einen grossen, weit über Kuba hinausweisenden historischen Tatsachenroman geschrieben, in dessen Zentrum die Freiheit des Individuums steht. Dabei verbindet er die äusserst detailreich erzählte fiktive Geschichte um die Entstehung jenes Gemäldes in einer Zeit, als Amsterdam ein von wirtschaftlicher Blüte geprägter Ort religiöser Toleranz war, mit einem kriminalistischen Plot im heutigen Kuba, wo die Menschen mit ihrem alltäglichen Überlebenskampf beschäftigt sind. In vielfältigen Spiegelungen schillern so die Lebensgeschichten von Menschen, die mit ihren jeweiligen Gesellschaften in Konflikt geraten, weil sie auf einem selbstbestimmten Leben beharren.

Das ist ein bisweilen schwindelerregendes, jedoch dank Paduras glasklarer Sprache und präziser historischer Verortung stets leicht verständliches Lesevergnügen.

Leonardo Padura: Ketzer. Unionsverlag. Zürich 2014. 
650 Seiten. 37 Franken