Deutschland: «Ich verstehe die linke Kritik an der EU»
Mit Skepsis gegenüber der EU ist sie immer wieder konfrontiert. Gabi Zimmer, seit 2004 Mitglied des Europaparlaments und seit 2012 Fraktionsvorsitzende der Europäischen Linken, tourt derzeit als Spitzenkandidatin der Partei Die Linke durch Deutschland.
WOZ: Gabi Zimmer, wie reagiert die Linke auf die wachsende EU-Skepsis?
Gabi Zimmer: Die einzige Antwort kann und muss sein, dass die EU aus linker Sicht tatsächlich zu einer sozialen Union wird, in der das Recht jedes einzelnen Menschen auf soziale und individuelle Menschenrechte durchgesetzt wird. Wenn wir mit doppeltem Mass messen und zulassen, dass eine Bevölkerungsgruppe gegenüber einer anderen ausgespielt wird, dann verlieren wir an Glaubwürdigkeit.
Wir müssen begreifen, dass die Angst vor dem Verlust von sozialer Sicherheit, vor dem Verlust des Arbeitsplatzes und dem Verlust der eigenen Zukunft in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Wenn Menschen Angst haben, dass ihnen durch die EU soziale Sicherheit weggenommen wird, dann sind sie offen für Forderungen, denen zufolge unser soziales Sicherheitssystem nur für die Staatsbürger des jeweiligen Staates gelten soll.
Aber ist die EU überhaupt reformierbar? Ihre Partei ist in dieser Frage ja gespalten.
Die Kritik an der EU, die es in der Linken gibt, ist für mich nachvollziehbar. Doch die EU bietet uns auch eine grosse Chance, Ressourcen zusammenzubringen und daraus wirklich eine solidarische Union zu machen und einen Mehrwert für die Menschen, die in den Mitgliedstaaten leben, zu schaffen. Auch im Hinblick auf globale Probleme, etwa den Kampf gegen den Klimawandel, die die einzelnen Nationalstaaten nicht lösen können, kann die EU mehr bewegen. Die EU ist eine Realität, und die Mehrheit meiner Partei – mindestens zwei Drittel – hat sich mit dem Wahlprogramm und der Nominierung der Spitzenkandidaten auch demonstrativ dafür entschieden, diese Chance zu nutzen.
Hat die Linke während der letzten Jahre im Europaparlament überhaupt etwas erreicht?
Wir haben von Anfang an kritisiert, dass die Forderungen der Troika gegenüber Griechenland, Spanien, Portugal und Irland die sozialen Spaltungen vertiefen und dass die EU dadurch an Glaubwürdigkeit verliert. Inzwischen ist bei vielen angekommen, dass diese drastische Kürzungspolitik die falsche Medizin ist. Wir müssen nun durchsetzen, dass nicht nur darüber diskutiert, sondern dass diese Politik jetzt geändert wird.
Im Kleinen aber haben wir schon gezeigt, dass Änderungen möglich sind. So konnte unsere Fraktion eine Mehrheit im Parlament und inzwischen auch den EU-Rat und die EU-Kommission von der Forderung überzeugen, dass jeder Mensch Zugang zu einem eigenen Konto bekommt. Für viele Menschen, besonders für jene ohne regelmässiges Einkommen, ist es oft unmöglich, ein Konto bei einer Bank zu eröffnen. Wer kein Konto hat, kann keine Überweisungen tätigen oder erhalten, das Bezahlen von Rechnungen gestaltet sich schwierig. Der Zugang zu einem Konto ist für Menschen, die in Armut leben, für Migrantinnen und Migranten, für Arbeitslose und Menschen ohne Einkommen ein ganz wichtiger Schritt. In der BRD betrifft das 500 000 Menschen.
Sie kritisieren die europäische Migrations- und Asylpolitik. Was haben Sie unternommen, um das Migrationsregime zu ändern?
Kürzlich hat das Parlament ein Mandat für Frontex beschlossen, das einige Kritikpunkte von uns aufgreift – aber leider nur unzureichend. Die Grenzschutzagentur ist jetzt klar verpflichtet, an Seenotrettungen teilzunehmen. Und sie darf Asylsuchende nicht in Drittstaaten zurückbringen, ohne Asylanträge ordentlich zu prüfen. Das Verbot bleibt aber lückenhaft, denn die Identitätsüberprüfung der Flüchtlinge darf auf den Frontex-Schiffen stattfinden.
Auf der europäischen Ebene fordern wir, dass die Drittstaatenregelung abgeschafft wird, nach der Flüchtlinge nur in dem Staat Asyl beantragen dürfen, den sie als Erstes betreten. Länder, die keine Aussengrenzen haben, wie beispielsweise die BRD, müssten viel mehr Flüchtlinge aufnehmen. Erstens soll Menschen in Not geholfen werden, und zweitens sollen sie auch wie Menschen behandelt werden, sobald sie europäischen Boden betreten haben.
Aber sind das nicht nur Appelle?
Ganz konkret haben wir uns in Belgien eingemischt. Nachdem die belgische Regierung behauptet hat, Afghanistan sei ein sicheres Land, wurden massiv Asylbewerber nach Afghanistan abgeschoben. Wir haben dafür gesorgt, dass die Situation der Flüchtlinge genauer geprüft wird, die seit Monaten in einem Kirchenasyl in Brüssel – der Hauptstadt der EU – leben. Wir haben gemeinsam mit den Flüchtlingsinitiativen und den karitativen Einrichtungen gehandelt und den politischen Druck auf die belgische Regierung erhöht.
Die meisten sozialen Bewegungen sind nationalstaatlich aktiv. Halten Sie eine grenzüberschreitende Kooperation für denkbar?
Die europäischen Gewerkschaften und die sozialen Bewegungen haben bereits mehrfach bewiesen, dass sie einiges auf die Reihe bekommen. Es gab gemeinsame Streiktage, an denen in mehreren Hauptstädten demonstriert wurde, und gemeinsame Sozialforen. Es gibt auch Kooperationen, etwa mit der Bewegung der Indignados in Spanien. Wenn wir die Kräfteverhältnisse verändern wollen, um eine soziale, ökologische Politik und mehr Demokratie durchzusetzen, müssen wir neue Formen der transnationalen Kooperation entwickeln. Erste positive Ansätze sind vorhanden, aber es bleibt noch viel zu tun.
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