Die Linke in Deutschland: Leise Töne nach dem lauten Streit
Vor den Europawahlen Anfang Juni kämpft das neu gegründete Bündnis Sahra Wagenknecht darum, sich zu etablieren – und die Linkspartei ums Überleben.
«Wir sind keine Linke 2.0. Das muss auch für unseren Umgang miteinander gelten. Lasst uns eine Partei des Miteinanders werden und nicht eine Partei der Intrigen», schallt es an einem Samstag Ende Januar durch das Kosmos-Kino im Ostberliner Stadtteil Friedrichshain, DDR-Bau, legendär. Die Frau, die am Redner:innenpult steht, ist vielleicht nicht legendär, aber zumindest eine der bekanntesten Politiker:innen Deutschlands: Sahra Wagenknecht. Es ist der Gründungskonvent einer Partei, die ganz auf sie zugeschnitten ist, sogar ihren Namen trägt: Bündnis Sahra Wagenknecht, BSW. Profil: sozialdemokratisch mit liberal-konservativen Elementen, schwer auf einen Nenner zu bringen.
Auch, weil es bislang nur ein sehr knappes Parteiprogramm und das EU-Wahlprogramm gibt, in dem friedenspolitische Forderungen mit solchen nach weniger EU-Einfluss in den Nationalstaaten und einer restriktiven Migrationspolitik kombiniert werden. Von der Selbstbezeichnung «links» hat sich Wagenknecht in den vergangenen Wochen distanziert. Auf dem Parteitag spricht man sich nicht, wie in der Linken üblich, als «Genossinnen und Genossen» an, sondern als «Freundinnen und Freunde». Das BSW soll keine Linke 2.0 sein – nicht einmal bei der Anrede.
Das «Aufstehen»-Debakel
Der BSW-Gründung ging eine Spaltung und der Spaltung die Geschichte einer Selbstzerstörung voraus: Jahrelang hat sich die deutsche Linkspartei, deren Fraktionsvorsitzende im Bundestag Sahra Wagenknecht zwischen 2015 und 2019 war, öffentlich gestritten. Um den Umgang mit Geflüchteten, um Zielgruppen, um Friedenspolitik, am Ende eigentlich um alles. Die Gegensätze innerhalb der Partei, so schreiben es die Politikwissenschaftler Mario Candeias und Carsten Braband in einer aktuellen Analyse, «waren längst unheilbar verhärtet», die Trennung notwendig geworden. Das politische Patt in der Partei sei die grössere Gefahr für das Fortbestehen der Linken gewesen, als es die Spaltung nun ist.
Gleichwohl sind die Herausforderungen riesig – für beide Parteien, die aus der Spaltung hervorgegangen sind. Die übrig gebliebene Linkspartei kämpft um ihr Überleben. Und auf dem BSW ruhen grosse Erwartungen, es soll den Aufstieg der extrem rechten Alternative für Deutschland (AfD) bei den ostdeutschen Kommunal- und Landtagswahlen im Sommer und Herbst dieses Jahres stoppen. Das mediale Interesse ist gewaltig, die Fallhöhe ebenso, zumal Wagenknecht 2018 mit ihrer Sammlungsbewegung «Aufstehen» schon einmal krachend scheiterte. Doch daraus hat die 54-Jährige offenbar gelernt. Den Parteiaufbau hat sie in die Hände derer gegeben, die es besser können als sie. Das BSW setzt auf kontrolliertes Wachstum: Mitgliedsanträge werden streng geprüft, beim Gründungsparteitag sind 450 ausgewählte Erstmitglieder dabei.
Dies mag ein Grund dafür sein, dass es dort keine kontroversen, ja eigentlich gar keine Diskussionen gibt – ein krasser Gegensatz zu den früheren Parteitagen der Linkspartei, der die meisten BSW-Mitglieder einst angehört haben. Fabio De Masi, ehemaliger Linken-Bundestagsabgeordneter und Finanzexperte, wird mit einem Stimmanteil von 98 Prozent zum Spitzenkandidaten für die Europawahlen gewählt.
Vom «Jacobin» in den EU-Wahlkampf
Knapp drei Wochen später im Wedding, einem Arbeiter:innenviertel im Westteil der Hauptstadt mit grosser migrantischer Bevölkerung, hat die dortige Basisorganisation der Linkspartei zu einer Veranstaltung geladen. Ein Dutzend Zuhörer:innen sind in den «LinksTreff» gekommen, heute spricht Ines Schwerdtner, die für das Europaparlament kandidiert, über Möglichkeiten und Grenzen linker Politik in der EU. Aber natürlich geht es auch um die Partei allgemein, um das BSW, die Wahlkämpfe, die schlechten Umfragewerte, die allgemein schwierige Lage vor Ort vor allem in Ostdeutschland.
Schwerdtner ist noch nicht lange in der Politik. Bis Sommer war sie Chefredaktorin der deutschen Ausgabe des sozialistischen «Jacobin»-Magazins. Als solche hat sie Die Linke, auch den Richtungsstreit, beobachtet und kommentiert. Im Sommer 2023 hängte Schwerdtner ihren Job als Journalistin an den Nagel, trat in die Partei ein und bewarb sich erfolgreich um einen aussichtsreichen Listenplatz für die Europawahl. Jetzt tourt sie durch Kreisverbände im Osten, nimmt an Streikkundgebungen teil, spielt Skat mit Parteimitgliedern in Thüringen. Sie weiss, dass die Partei einen langen Weg vor sich hat, bevor sie in Brüssel linke Politik durchsetzen kann. Den Europawahlkampf versteht Schwerdtner auch als Teil des Kampfes um die Erneuerung der Linken – und um ihren Fortbestand.
Aber wie? «Die Aufgabe muss im Augenblick sein: Erst mal zuhören», sagt Schwerdtner. Vielerorts sei die Lage prekär, mitunter trauten sich Linken-Mitglieder wegen der rechten Dominanz kaum noch, öffentlich aufzutreten. Viele, die in den Kommunen die Arbeit stemmten, seien zudem alt, es würden immer weniger, Wissen über Basisarbeit verschwinde.
Aus Schwerdtners Sicht geht es darum, die bröckelnden Parteistrukturen vor Ort neu aufzubauen oder zu beleben, durch Ansprechbarkeit, etwa Sozialberatung und konkrete Unterstützung in schwierigen Lebenslagen. Dafür hat sie mit anderen die Arbeitsgemeinschaft «Linke hilft» ins Leben gerufen. Sie verweist gerne auf die KPÖ in Österreich und die Partei der Arbeit in Belgien, die eine Begrenzung von Abgeordnetendiäten praktizieren. Etwas, das Schwerdtner ebenfalls tun will, sollte sie ins EU-Parlament einziehen.
«Die Trennung als Chance»
Einen ähnlichen Vorschlag macht die Initiative «Eine Linke für alle». Abgeordnete sollten einen Teil ihrer Diäten in einen Sozialfonds geben, aus dem Menschen in Notlagen ausgeholfen werden könne, bei Mietschulden oder wenn die Waschmaschine unerwartet ersetzt werden müsse. Ganz einfache Solidarität. Ein weiterer Vorschlag ist eine Mindestquote neuer Gesichter auf Wahllisten der Linkspartei. Das Ziel: der Wiedereinzug in den Bundestag.
Die Initiative für «Eine Linke für alle» kam zunächst nicht aus der Partei selbst, sondern aus ihrem Umfeld. Eine der Initiator:innen ist Alina Lyapina. Die 32-Jährige ist Neumitglied der Linken – so wie Hunderte weitere Menschen, die nach dem Abgang der Wagenknecht-Gruppe einen Aufnahmeantrag gestellt haben. Lyapina ist Campaignerin und war bei der Seebrücke aktiv, einer Organisation, die sich für sichere Fluchtwege einsetzt. Schon länger habe sie auf ein Zeichen gewartet, dass die Linkspartei es mit einer Erneuerung ernst meine, sagt sie bei einem Gespräch Ende Februar am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin, dort, wo das Karl-Liebknecht-Haus steht, die Parteizentrale der Linken, in der vor hundert Jahren schon die KPD ihren Hauptsitz hatte. Seit Mitte Februar arbeitet Lyapina hier in der Kampagnenabteilung.
«Die Trennung von Sahra Wagenknecht ist eine riesige Chance», sagt sie. «Nun kann die Linke endlich wieder für eine Politik eintreten, die die gemeinsamen Interessen verschiedener Menschen nach vorne stellt, anstatt diese gegeneinander auszuspielen. Ich zum Beispiel bin eine Migrantin, die schon immer mehrere Jobs zugleich machen musste, und fühle mich als Teil der Arbeiterklasse, trotz meines Universitätsabschlusses.» Lange Zeit habe sie nicht mehr geglaubt, dass die Linkspartei noch eine Zukunft habe, gibt sie zu. «Aber ich habe meine Meinung geändert. Die Lage ist zu ernst. Wenn wir die Linke nicht erneuern, wird die AfD gewinnen.»
Gelingt das Unterhaken?
Dass die Lage ernst ist – dem würden wohl alle in der Linkspartei zustimmen. Ob der Weggang Wagenknechts eine Chance oder doch ein Scheitern ist, darüber gehen die Meinungen auseinander. Bei ihrer Tour durch ostdeutsche Kreis- und Kommunalverbände höre sie oft die Frage «Was haben die mit der Sahra gemacht?», erzählt Ines Schwerdtner. Die Loyalität zur Partei ist zwar gerade bei Älteren hoch. Doch gebe es angesichts der dauernden Konflikte auch viel Misstrauen gegenüber der Parteiführung. «Wer dauernd streitet, kann sich nicht um andere kümmern», fasst sie die Stimmung zusammen. Auch bei der Basisorganisation im Wedding herrscht Skepsis gegenüber den eigenen Führungsgremien, viele vermissen ein ehrliches Eingeständnis der katastrophalen Lage. Den nun zumindest offiziell beigelegten Richtungsstreit haben sie als Ausdruck abgehobener Marotten von Karrierist:innen wahrgenommen. «Vielleicht schadet es ein paar Leuten aus dem Karl-Liebknecht-Haus nicht, wenn sie mal was Richtiges arbeiten müssen», murrt einer.
Ob sich die bestehende Basis mit Alina Lyapina und ihren Mitstreiter:innen von «Eine Linke für alle» unterhaken kann? Das muss sich noch zeigen. Dass es einen neuen Grundkonsens braucht, ein stärkeres Profil und mehr Miteinander – diese Überzeugung teilen zwar viele in der Linkspartei. Doch ist es nicht so einfach, sie auch in die Tat umzusetzen, zumal in einem Zustand der Ausgezehrtheit. Die Rettung der Linken wird wohl ein Marathon, und ob sie gelingt, ist ungewiss. Zugleich drängt die Zeit.
Denn erste Prüfsteine werden die anstehenden Wahlen sein: zum EU-Parlament und in einigen ostdeutschen Bundesländern. Konkurrenz macht der Linkspartei dann erstmalig auch das Bündnis Sahra Wagenknecht. In Thüringen, wo Die Linke mit Bodo Ramelow noch den Ministerpräsidenten stellt, ist dem BSW bereits ein Coup gelungen: Katja Wolf, die Oberbürgermeisterin der Stadt Eisenach, hat die Linkspartei verlassen und sich dem BSW angeschlossen. Am 23. Februar sitzen Wolf und Wagenknecht gemeinsam in der Landeshauptstadt Erfurt vor der Presse und geben Auskunft über ihre Pläne für die Wahlen in Thüringen. Am Tag darauf wird der Landesverband Sachsen aus der Taufe gehoben. Bei deutschlandweiten Umfragen liegt das BSW inzwischen bei vier bis fünf Prozent – im Moment hätte es bessere Chancen als die Linke, in den Bundestag einzuziehen.
Wie gross die Chancen für das BSW sind, sich tatsächlich zu etablieren, darüber herrscht unter Beobachter:innen Uneinigkeit. Viele erwarten nur kurzzeitige Erfolge. Einen anderen Ton schlägt der emeritierte Politologieprofessor Hajo Funke an, der Ende Februar in einem Interview sagt, wenn sich die Partei nach ihrer Gründung konsolidiere, seien «schon in diesem Jahr die Folgen kaum absehbar». Angesichts der «weit aufgerissenen Repräsentationslücke im Angebot der bisherigen etablierten Parteien» sei es möglich, so Funke, dass «ohne das BSW im Herbst nach den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg keine Regierung gebildet werden kann».
Doch was dann? Wofür würde sich das BSW starkmachen? In Erfurt erklärt Wagenknecht, dass es für Thüringen noch kein Wahlprogramm gebe, die neue Partei werde das «gemeinsam mit den Thüringerinnen und Thüringern entwickeln» – unter anderem in einem digitalen Beteiligungsverfahren. Man wolle «erst mal zuhören», so Wagenknecht, und herausfinden, was die Menschen bewege. Das BSW sei eben anders als die anderen Parteien. Wobei: Es gibt eine Partei, aus der man derzeit oft ganz ähnliche Töne hört: den Menschen, der Basis, erst mal zuhören, einen Unterschied machen. Es ist Wagenknechts Expartei: Die Linke.