Durch den Monat mit Jacqueline Revaz Frey (Teil 2): Warum ist es heute so schwierig, eine Praxis zu übernehmen?
Jacqueline Revaz Frey über die Rollenverteilung in der mit ihrem Mann betriebenen Hausarztpraxis und den drohenden Mangel an HausärztInnen auf dem Land.
WOZ: Jacqueline Revaz, was hat Sie vor 25 Jahren dazu bewogen, Hausärztin zu werden?
Jacqueline Revaz: Nach meiner Rückkehr aus Südafrika machte ich zunächst eine Vertretung in einer Hausarztpraxis und arbeitete dann als Assistentin in der Neurologie und in der Pädiatrie. Das alles hat mich sehr interessiert. Letztlich war es die Vielseitigkeit der Allgemeinmedizin, die meinen Mann und mich 1989 dazu bewog, in Dotzigen im Berner Seeland eine Hausarztpraxis zu eröffnen. Wir wollten keine Stadtmedizin machen, sondern das breite Spektrum des Berufs in einem Dorf praktizieren.
Medizinische Grundversorgung für ein ganzes Dorf?
Ja, das kann man so sagen. Seit 25 Jahren sind wir als einzige Praxis im Dorf für viele der 1300 Bewohner die erste medizinische Anlaufstelle. Manchmal ist es schon fast beängstigend, wie sehr wir vor allem für ältere Patienten eine Schlüsselfunktion einnehmen. Ein Professor vom Inselspital sagte mir kürzlich: Wenn er Patienten eine Operation vorschlage, dann bekomme er immer wieder die Antwort, dass sie sich nicht entscheiden könnten – und über die Angelegenheit zuerst mit ihrem Hausarzt sprechen wollten. Das zeigt das Vertrauensverhältnis, das viele Patienten zu ihren Hausärzten haben – und damit auch die Schlüsselfunktion der Hausärztinnen und Hausärzte in der medizinischen Grundversorgung. In der Gesundheitspolitik der letzten Jahre ist das leider viel zu wenig honoriert worden. Viele sehen in uns in erster Linie selbstständige Kleinunternehmer.
Umso fataler würde sich der Mangel an Hausärzten auswirken, vor allem auf dem Land …
Was ja kein unrealistisches Szenario ist: Mein Mann und ich gehören zu den vielen Hausärzten einer Generation, die in den nächsten Jahren in Pension gehen wird. Gleichzeitig haben viele angehende Ärzte Angst davor, eine Praxis zu übernehmen. Wir stehen also vor einem Nachwuchsproblem. Als wir anfingen, Ende der achtziger Jahre, war die Angst, eine Praxis zu übernehmen, noch weniger verbreitet – auch wenn das Image des Hausarztes schon damals abgenommen hatte und es nicht leicht war, einen Betriebskredit zu erhalten. Aber die Angst war kleiner. Wir hatten den Glauben an unsere Fähigkeiten – und sahen das Bedürfnis.
Was macht es heute so viel schwieriger, eine Praxis zu übernehmen?
Der Hausarztberuf hat ganz allgemein an Attraktivität verloren. Die Angst, über Jahre an einen Ort und an eine Aufgabe gebunden zu sein, ist grösser geworden. Auch die wirtschaftlichen Voraussetzungen sind schlechter geworden. Hinzu kommt die grosse Verantwortung, die eine Hausarztpraxis mit sich bringt. Diese zu tragen und zu sagen: Ich bin da für die Leute, mache Notfalldienst und opfere mich auf, wo es nötig ist – dazu sind nur wenige bereit. Zudem ist die Medizin weiblicher und das Bedürfnis nach Teilzeitarbeit grösser geworden. Und dann gibt es noch einen Punkt: die Einsamkeit in der Praxis.
Hausarztpaare wie Sie und Ihr Mann sind also ein Erfolgsmodell?
In unserem Fall: Ja. Auch wenn wir sehr unterschiedlich sind: Medizinisch haben wir absolut die gleiche Linie. Ich kenne einige Paare, bei denen das ebenfalls sehr gut funktioniert. Aber natürlich gibt es auch viele, denen es wohler ist, wenn Beruf und persönliche Beziehung getrennt bleiben.
Wie kann man sich denn die Rollenverteilung in Ihrer Praxis vorstellen?
Mein Mann ist eher der Internist und betreut als solcher auch Patienten im Altersheim gleich neben unserer Praxis; ich bin eher die Allrounderin und behandle vor allem auch Frauen und Kinder. Mein Mann arbeitet gut achtzig Prozent, ich hingegen nur halbtags. Das hat auch damit zu tun, dass ich mich darüber hinaus verbandspolitisch engagiere.
Mit welchem Erfolg?
Der 1. April 2006 war ein wichtiger Tag in meiner Politisierung als Hausärztin: der Tag, an dem über 10 000 Hausärztinnen und Hausärzte aus der ganzen Schweiz auf dem Bundesplatz zusammenkamen, um gegen die immer schlechter werdenden Arbeitsbedingungen zu protestieren. Für mich war das ein Aha-Erlebnis: Wir sind nicht allein mit unserer Praxis, da sind noch Tausende andere Hausärzte, denen es ähnlich geht. Die Initiative «Ja zur Hausarztmedizin», über deren Gegenentwurf «zur Stärkung der medizinischen Grundversorgung» am kommenden Wochenende abgestimmt wird, ist letztlich eine Folge dieses kollektiven Aufbegehrens.
Worum geht es vor allem?
Grundsätzlich darum, dass die medizinische Grundversorgung als Ganzes gestärkt und dabei vor allem auch die Hausarztmedizin gefördert wird. Bund und Kantone sollen gesetzlich dazu verpflichtet werden, dass auch in Zukunft jeder und jede in der Schweiz rasch und gut medizinisch versorgt wird. Das bedingt auch eine angemessene Abgeltung der Hausarztmedizin sowie verbesserte Rahmenbedingungen in der Aus- und Weiterbildung.
Jacqueline Revaz Frey (58) führt mit ihrem Mann Bruno Frey-Revaz seit 25 Jahren eine Hausarztpraxis in Dotzigen, einem kleinen Dorf im Seeland bei Biel. Als Vorstandsmitglied der Berner Hausärzte engagiert sie sich für die Stärkung der medizinischen Grundversorgung, über die am 18. Mai 2014 abgestimmt wird.