Editorial: Die Welt erklingt in vielen Stimmen
«Wer läutet die Glocken?», fragte einst Thomas Mann in der unerschütterlichen Überzeugung, dass es nur der Autor sei, der spricht. Der (männlich gedachte) allwissende Erzähler gehört mittlerweile ebenso der Vergangenheit an wie eine «reine» Nationalliteratur – das jedenfalls schreibt Catalin Dorian Florescu in seinem kulturkritischen Auftaktessay zu dieser WOZ-Literaturbeilage. Florescu will «Literatur» nur noch in der Mehrzahl denken und seine Bücher nicht bloss auf «Reiseführer für Osteuropa» reduziert sehen.
«Wer spricht?», fragen wir anlässlich der in diesem Jahr unter dem Motto «Stimmen – Voix – Voci – Vuschs» stattfindenden Solothurner Literaturtage und stellen fest, dass wir es in der globalisierten Welt nicht nur mit sprachlicher Polyphonie zu tun haben, sondern auch mit Stimmen aus dem Off. Der kosovarische Dichter Shaip Beqiri vermittelt seine Exilierungserfahrungen auf Albanisch, während die Ukrainerin Katja Petrowskaja ins Deutsche flüchtet, um ihre zum Schweigen gebrachte jüdisch- polnische Familie vielstimmig zusammenzuführen.
Was geschieht, wenn ein Schriftsteller die enge Schweiz verlässt und seine Bücher mit «Welthaltigkeit» füllt, lässt sich in Stefan Howalds Überlegungen zu Lukas Bärfuss’ Roman «Koala» nachlesen. Umgekehrt erhebt aus der scheinbar stummen Schwyzer Diaspora Martina Clavadetscher ihre Stimme . Zu einem Wagnis wird das Sprechen schliesslich, wenn es ein lange verstummter Schrift steller von den Figuren in «die Sache» verlegt, worüber Rolf Niederhauser Auskunft gibt .
Die Illustrationen zu dieser Literaturbeilage, in denen sich das Sprechen in unterschiedlichen Formen und in verschiedensten Situationen äussert, hat WOZ-Grafikerin Franziska Meyer entwickelt und realisiert.