Kommentar zur Mindestlohn-Abstimmung: Die Politik der Angst
Das deutliche Nein zum Mindestlohn ist auch eine Folge des Laissez-faire-Liberalismus, der sich bis ins linke Lager hineingefressen hat.
Als Paul Rechsteiner an jenem Abstimmungssonntag im Volkshaus Bern die Niederlage vernahm, schritt er eine Weile lang mit nachdenklichem Blick ziellos in der Lobby umher. Es war der 9. Februar 2014, das Stimmvolk hatte eben Ja zur Einwanderungsinitiative der SVP gesagt. Dem Gewerkschaftsbundpräsidenten war wohl klar: Für die damals bevorstehende Mindestlohninitiative war dies ein herber Schlag. Auf eine entsprechende Frage reagierte er sichtlich gereizt.
Das Ergebnis der Mindestlohninitiative vom Wochenende ist tatsächlich desaströs. Gerade mal 23,7 Prozent der Stimmenden platzierten ihr Kreuzchen beim Ja. Nicht einmal die linke Basis stimmte geschlossen dafür. Wozu braucht es noch einen Mindestlohn, mögen sich viele gefragt haben, nun, da die Einwanderung gestoppt wurde? Schliesslich hatte die Linke stets betont, dass der verspürte Lohndruck auf die Öffnung der Grenzen zurückzuführen sei. SP-Präsident Christian Levrat hatte gar gedroht, dass sich ohne stärkeren Lohnschutz auch seine Partei überlegen müsse, ob sie die Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf Kroatien mittragen könne.
Viel wichtiger war wohl jedoch: Die EU hat auf das Ja zur Einwanderungsinitiative bereits mit vereinzelten Sanktionen reagiert, in der Bevölkerung geht die berechtigte Angst um, das Land könnte wirtschaftlichen Schaden davontragen. Wer will schon in dieser Situation zusätzliche Experimente wagen?
Doch auch der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) trägt Schuld. Erstens: Er wollte das Mindestlohnprojekt für sich und war gegenüber der übrigen Linken auf Distanz bedacht. Die Unterstützung im Abstimmungskampf war dort entsprechend verhalten. Zweitens: Es war eine technokratische Kampagne, in der zuvorderst Gewerkschaftsökonom Daniel Lampart mit Zahlen jonglierte. Wer sind jedoch die Menschen hinter diesen Zahlen? Drittens: Der Gewerkschaftsbund hat zu hoch gepokert. Statt einen niedrigen Mindestlohn zu erkämpfen und sich später für dessen Anpassung nach oben einzusetzen (diesen Weg haben Deutschlands Gewerkschaften erfolgreich beschritten), forderte der SGB 4000 Franken, die vereinzelte kleinere Betriebe wohl tatsächlich in Not gebracht hätten.
Der SGB hat allem Anschein nach darauf gesetzt, dass das Parlament der Initiative einen mehrheitsfähigen Gegenvorschlag gegenüberstellt. Blöderweise kam keiner.
Die Idee des Mindestlohns hat es in der Schweiz ohnehin schwer. Im Wallis erreichte eine Initiative für einen kantonalen Minimallohn von bescheidenen 3500 Franken am Sonntag gar nur 19,3 Prozent der Stimmen. Die Schweiz steht in Wirtschaftsfragen seit je stramm rechts. Und seit den achtziger Jahren, als die FDP «Mehr Freiheit, weniger Staat» forderte (aus dem auch die Linke «Gurkensalat» machen wollte), hat sich der Laissez-faire-Liberalismus bis tief ins linke Lager hineingefressen. Daran vermochte auch die Finanzkrise 2008 nichts zu ändern. Der Zeitgeist widerspiegelt sich in den Medien: Selbst das «Echo der Zeit», Bastion des kritischen Journalismus, erklärt dem Schweizer Bildungsbürgertum allabendlich, Europa liege wegen der angeblich verkrusteten Arbeitsmärkte in der Krise.
Der wirtschaftsliberale Umbau schürt in der Gesellschaft zudem Unsicherheit, der Mittelstand ist von Abstiegsängsten geplagt. Genau auf diese Angst hat die Seite der UnternehmerInnen in ihrem Abstimmungskampf gesetzt, indem sie vor dramatischen Jobverlusten warnte. Genauso wie Bundesrat Johann Schneider-Ammann, der, anstatt eine redliche Einschätzung des Mindestlohns vorzunehmen, den Teufel an die Wand gemalt hat. Der Laissez-faire-Liberalismus ist ein Perpetuum mobile.
Die Angst führt schliesslich zu Egoismus. Warum soll das Kleinbürgertum, das zunehmend rudert, um seinen Lebensstandard zu erhalten, anderen etwas gönnen? Lieber tritt man, in der Sorge, seinen Status zu bewahren, nach unten. Wie letztmals mit der Einwanderungsinitiative. Die ausländischen Arbeitskräfte verlieren durch die Einführung von Kontingenten nun nicht nur das Recht auf Daueraufenthalt, Familiennachzug und Sozialleistungen. Die TieflohnbezügerInnen werden auch auf einen Mindestlohn verzichten müssen.