Medientagebuch: Mächtig. Nicht zynisch
Daniel Ryser über die Bedeutung Frank Schirrmachers
Vor zwei Jahren war ich in Frankfurt, um Frank Schirrmacher zu interviewen, den letzte Woche mit bloss 54 Jahren verstorbenen Feuilletonchef und Herausgeber der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» (FAZ). Grund für die Reise war, dass Schirrmacher, einer der führenden Intellektuellen des bürgerlichen Deutschlands, in einem Essay zum Schluss gekommen war, dass «ein Jahrzehnt enthemmter Finanzmarktökonomie wie in einem Echtzeitexperiment nicht nur belegt, dass die gegenwärtige bürgerliche Politik falsch ist, sondern, viel erstaunlicher, dass die Annahmen ihrer grössten Gegner richtig sind». Er berief sich dabei auf einen Essay des erzkonservativen Thatcher-Biografen und Publizisten Charles Moore, der zum Schluss gekommen war, dass die Linke recht habe. Man müsse eine bürgerliche Gesellschaftskritik wiederfinden, befand Schirrmacher, und Moores Intervention zeige, wie sie aussehen könnte.
Das hat Schirrmacher dann in der FAZ getan. Und griff von da an nicht nur die Banken an. Sondern die Mächtigsten unserer Zeit. «Der Mann, der besessen war von der Gegenwart», wie «Die Zeit» im Nachruf schrieb, «war mit der digitalen Revolution in ihrem absoluten Zentrum angekommen, da, wo sie täglich neu bestellt wird, wo ihr Herz schlägt.»
Schirrmacher war überzeugt, dass im Netz eine entscheidende Schlacht geschlagen wird, und diese Debatte wurde in der FAZ so ausführlich geführt wie nirgendwo sonst. Im besten Sinn journalistischer Aufklärung versammelte er Intellektuelle, etwa den Publizisten Evgeny Morozov oder die ehemalige Harvard-Professorin Shoshana Zuboff, die uns zu denken gaben, wer hier wen kontrolliert: wir unser Smartphone oder unser Smartphone uns?
Schirrmacher scheute sich nicht zu sagen, dass ihn die Enthüllungen Edward Snowdens geschockt hätten, und wurde dafür von VertreterInnen des Silicon Valley, bürgerlichen JournalistInnen und der CDU als Kulturpessimist angefeindet. Dem NDR sagte er in seinem letzten Interview zwei Tage vor seinem Tod: «Wir sind konfrontiert mit einem neuen Phänomen von Industrieintellektuellen, die völlig blind sind gegenüber globaler Machtakkumulation.»
Schon vor Snowden griff Schirrmacher die «Marktautomaten der Informationsökonomie» scharf an: Spätestens seit der NSA-Affäre waren für ihn die Googles und Facebooks dieser Welt «Doppelagenten, die uns Suchergebnisse, Bücher, Freundschaften oder auch nur einen Arzttermin verschaffen und im Gegenzug jeden einzelnen unserer Schritte aufzeichnen, speichern und weitermelden».
Schirrmacher hat, wie er selbst einmal sagte, die Sprache und den Journalismus als Waffe verstanden. Vor diesem martialischen Bild ist der Tod des bürgerlichen Feuilletonchefs der FAZ eine gute Nachricht für Barack Obama, Angela Merkel, Google und die NSA, die Mächtigen dieser Welt, und eine schlechte für uns da unten in den Wirren des Datendschungels, die ein Recht darauf hätten, nicht überwacht zu werden, oder auch für Snowden, den Whistleblower und Aufklärer, der in Schirrmacher einen mächtigen Fürsprecher gefunden hatte.
Denn das war Schirrmacher: sehr mächtig. Aber nicht zynisch. Von seinem Frankfurter Büro aus, inmitten von Tausenden Büchern, stiess er in den letzten fünfzehn Jahren unzählige Debatten an, die Deutschland prägten. Statt sich auf seiner Macht auszuruhen, hat er als Journalist mit aller Macht dem Bürgertum, dem er selbst entstammte, ans Schienbein getreten. Und dafür habe ich ihn bewundert.
Daniel Ryser ist ab 1. Juli wieder WOZ-Redaktor.