Frank Schirrmacher: Die Welt als Wille und Bedeutung
Die Texte des verstorbenen FAZ-Herausgebers Frank Schirrmacher sind ein Lehrstück in Sachen Debattenfeuilleton. Und das Selbstporträt eines besessenen Weltdeuters, der sich gern in anderen grossen Männern spiegelte.
«Das Feuilleton ist kein Gefäss, es ist Energie, nicht romantisches Gefühl, sondern romantische Produktivität», schrieb Frank Schirrmacher einmal über einen Kollegen. Mit diesem Satz hätte er perfekt auch sich selbst und den eigenen Schaffensimpuls charakterisieren können. Der langjährige Feuilletonchef und Herausgeber der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» (FAZ), der vor rund einem Jahr unerwartet im Alter von 54 Jahren an einem Herzinfarkt verstarb, galt als eine Art Zauberkünstler des Feuilletons. Für manche war er gar «der wirkmächtigste Kulturjournalist Deutschlands». Denn Schirrmacher gelang es, über den Kulturteil der Zeitung breite gesellschaftspolitische Debatten anzustossen, womit er das Gesicht der FAZ nachhaltig veränderte.
Die unter dem Titel «Ungeheuerliche Neuigkeiten» von Jakob Augstein herausgegebene Sammlung mit Texten aus den Jahren 1990 bis 2014 lässt sich als Porträt des Journalisten lesen und zugleich als ein Lehrstück in Sachen Debattenfeuilleton. Schirrmacher ging es nie darum, kulturelle Ereignisse bloss zu rezensieren. Alle Texte im vorliegenden Band zeugen von einer Suche nach der tieferen, zeitdiagnostischen Bedeutung des Aktuellen. Egal ob es sich um den Tod des Astronauten Neil Armstrong handelt oder die Erschiessung Usama Bin Ladens oder die Rechtschreibreform. Es gibt keinen Text, der nicht versuchte, anlässlich eines aktuellen Aufhängers eine starke These aufzustellen. Der Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull, der 2010 zeitweilig den europäischen Flugverkehr lahmlegte, wird bei Schirrmacher zum Menetekel über Simulationstechniken, die den Menschen selbst in Algorithmen verwandelten. Die Jahrtausendwende ist ihm Anlass, einem «Moses-Gefühl» der im 20. Jahrhundert Geborenen Ausdruck zu verleihen, jenem «Empfinden, die Zukunft, die nun beginnt, nicht mehr wirklich betreten zu können».
Im Brustton der Überzeugung
Drei Themenkomplexe treiben Schirrmacher vor allem um: die Entwicklung der digitalen Technologien mit ihren gesellschaftlichen Auswirkungen, der demografische Wandel und die Auseinandersetzung mit der historischen Schuld des Nationalsozialismus. Dabei nutzt er den hohen Ton des Feuilletons, das ihm die Autorität verleiht, Behauptungen mit Allgemeinheitsanspruch und im Brustton nationaler Bedeutsamkeit zu formulieren. Der Redaktor einer Zeitung, die von sich selbst nicht als FAZ, sondern immer nur als «diese Zeitung» spricht, verwendet kein «ich».
Wenn andere schreiben würden, der letzte Satz aus Stanislaw Lems «Solaris» habe sie nachhaltig beeindruckt, liest man bei Schirrmacher von den «niemals vergessenen letzten Seiten» des «wohl bedeutendsten Romans». Der Weltdeuter erklärt uns, welche Presseerklärungen «in die Geschichte eingehen» werden und dass die Bankuntergänge in der Wall Street dem Erdbeben von Lissabon gleichkommen. Eigenartigerweise nimmt man ihm das wirklich ab: weil er Schirrmacher ist, weil seine Thesen in ihrer Besorgnis um die bürgerliche Ordnung aufrichtig klingen, weil das Debattenfeuilleton von solchen Übertreibungen lebt. Diese Textgattung legitimiert sich durch einen hermeneutischen Überschuss, der auch mal ins Leere gehen kann.
Der Feuilletonartikel ist ein Bastard. Nicht Literatur, aber literarisch, nicht Politik, aber politisch, nicht tagesaktuell, aber auf der Höhe der Ereignisse soll er sein. Das gibt ihm eine nur halbfeste Beständigkeit, und auch die vorliegenden Texte tragen diesen Zeitkern, der sie mitunter schon historisch wirken lässt. Als FAZ-Herausgeber war Schirrmacher ein dezidierter Meinungsmacher, Moralist und zuweilen auch ein gnadenloser Verurteiler, dem die öffentliche Rede zur Waffe wurde. Das demonstriert jener offene Brief, mit dem er im Jahr 2002 Martin Walser des Antisemitismus zieh, weil dieser ihm den auf Marcel Reich-Ranicki gemünzten Roman «Tod eines Kritikers» zum Vorabdruck angeboten hatte. «Nicht wahr, Sie haben das ‹schlagt ihn tot, den Hund, er ist ein Rezensent› nur wörtlich genommen?» Die Eiseskälte dieses einsichtigen und doch perfiden Schachzugs gegen Walser kann heute noch schaudern machen.
Ein Männerspiel
«Ungeheuerliche Neuigkeiten» enthält eine interessante Textauswahl. Die frühen Artikel spiegeln noch eine gewisse Verschraubtheit des promovierten Germanisten, der eigenwillige Thesen zur Literatur aufstellt. Die Sammlung erstaunt auch durch schön zu lesende Interviews mit Joachim Fest etwa, mit Albert Speer und Ottfried Preussler. Sie zeigt allerdings unmissverständlich, dass das hohe deutsche Feuilleton ein Männerspiel ist. Auf den gut 330 Seiten kommen Frauen weder als Akteurinnen noch als Gegenstand der Auseinandersetzung vor, das Register zählt 16 Frauen- im Vergleich zu rund 350 Männernamen. Schirrmacher, der hyperproduktive Romantiker, glaubte nicht nur an die Macht des grossen Wortes, sondern auch an grosse Männer. Wie ahnungslose Prophetie lesen sich im Rückblick seine Nachrufe auf Rudolf Augstein und Marcel Reich-Ranicki. Hier wird zur beklemmend traurigen Wahrheit, dass der Feuilletonist, egal was er verhandelt, immer auch über sich selbst schreibt.
Frank Schirrmacher und Jakob Augstein (Hrsg.): Ungeheuerliche Neuigkeiten. Texte aus den Jahren 1990 bis 2014. Blessing Verlag. München 2015. 334 Seiten. 23 Franken