Ukraine: Kriegstreiber hüben wie drüben

Nr. 37 –

In der Bevölkerung der Ukraine haben sich in den letzten Wochen die Stimmen gemehrt, die ein Ende des Kriegs fordern. Der jetzt ausgehandelte Waffenstillstand ist jedoch von verschiedener Seite bedroht.

Wer hätte Ende 2013 gedacht, dass sich die Ukraine ein knappes halbes Jahr später in einem Krieg befindet? Damals demonstrierten Hunderttausende gegen den Diktator und Oligarchen Wiktor Janukowitsch auf Kiews zentralem Platz, dem Maidan. Die DemonstrantInnen wollten endlich in einem Rechtsstaat leben, wie man ihn von den europäischen Demokratien kennt.

Jeden Abend hatte die Sängerin Ruslana, die 2004 für die Ukraine den Eurovision Song Contest gewonnen hatte, auf dem Maidan die Nationalhymne gesungen. Sie war zum Bild des Aufstands gegen die korrupte Janukowitsch-Diktatur geworden. BewohnerInnen von Kiew hatten den aus allen Teilen des Landes angereisten Maidan-AktivistInnen Kleidung, Lebensmittel und auch Geld gebracht. Nach Monaten erbitterter Kämpfe, nach über hundert erschossenen AktivistInnen siegte die Bewegung Ende Februar, der Diktator floh nach Russland. Wenig später bildete sie die neue Regierung.

Und wieder wird zensuriert

Doch der erhoffte demokratische Aufbruch blieb aus. Wieder begannen Repressionen. Eines der ersten Gesetze der neuen Regierung nahm den besonderen Status der russischen Sprache zurück. Wer sich bei einer Diskussion auf dem Maidan als Janukowitsch-Anhänger outete, wurde als «Provokateur» von den «Kräften der Selbstverteidigung des Maidan» zu einem Verhör abgeführt. Linke Gruppen, die auf dem Maidan die soziale Frage diskutieren wollten, wurden von Angehörigen des Rechten Sektors mit Gewalt vertrieben.

Inzwischen ist mit Petro Poroschenko wieder ein Oligarch zum neuen Präsidenten gewählt worden. Die Gesetze der jetzigen Kiewer Regierung stehen Janukowitschs Zensurbemühungen in nichts nach. Mitte August bevollmächtigte das Parlament den nationalen Sicherheitsrat und den Präsidenten, Organisationen, Firmen, Parteien und Veranstaltungen zu verbieten, die den Terrorismus und die Besetzung der Krim unterstützten. Die Kabelfernsehanbieter mussten praktisch alle russischen Fernsehsender aus dem Programm nehmen, sogar den russischen Service des paneuropäischen Senders Euronews.

Im August wurden zehn Personen wegen Sympathien für den Separatismus, die sie in sozialen Netzwerken geäussert hatten, zu Gefängnisstrafen verurteilt. Derzeit befinden sich zwei kommunistische Abgeordnete des Bezirksrats von Dnjepropetrowsk in Untersuchungshaft. Ihnen wird vorgeworfen, auf Flugblättern separatistisches Gedankengut verbreitet zu haben. Gegen über tausend Menschen laufen Ermittlungsverfahren wegen angeblicher Unterstützung des Separatismus. Mitte August kündigte Anton Geraschtschenko, Berater des ukrainischen Innenministers, an, man plane die Schliessung von Internetangeboten und Seiten in sozialen Netzwerken, die «für Ukrainer schädlich» seien.

Auch in der Ostukraine herrschte im Frühling Aufbruchstimmung. Alarmiert durch Versuche der Kiewer Regierung, die russische Sprache zurückzudrängen und die Westanbindung voranzutreiben, gingen dort immer mehr Menschen auf die Strasse, forderten mit russischen Fahnen eine «Föderalisierung»der Ukraine. Woche für Woche standen Hunderte und Tausende, einige von ihnen mit Stalin-Porträts und Muttergottesbildern, vor dem Lenin-Denkmal von Donezk, der Metropole des Donbass, um gegen die Kiewer «Junta» zu demonstrieren.

Doch man war nicht nur gegen die Kiewer Regierung. Viele zeigten ihre Ablehnung gegen alles Liberale, «Heterophobe», Europäische, US-Amerikanische und «Antislawische». Häufig waren antisemitische Untertöne zu hören. Die Unterstellung, Poroschenko und die anderen Oligarchen seien ja alle Juden, die in Wirklichkeit die Interessen eines ganz anderen Staats vertreten würden, zieht sich wie ein roter Faden durch die Argumentation der Aufständischen.

In einem Referendum Mitte Mai sprach sich die Mehrheit der Bevölkerung für eine Eigenständigkeit des Donbass aus. Doch viele fühlen sich von den Sprechern der Bewegung für Föderalisierung im Osten des Landes betrogen. «Ich habe beim Referendum auch mit Ja gestimmt», sagt Tatjana, eine Bewohnerin der Kleinstadt Zugres in der Nähe von Donezk. «Doch ich will keine Abtrennung von Kiew. Ich wollte mit meiner Stimme lediglich Kiew zeigen, dass ich mit der derzeitigen antirussischen Politik nicht einverstanden bin. Die Forderung nach Anschluss unseres Gebiets an Russland unterstütze ich nicht.» So wie Tatjana denken viele im Donbass. Man will zwar mit Kiew möglichst wenig zu tun haben, aber einen eigenen Staat oder gar einen Anschluss an Russland wollen die meisten nicht. 

Die Zeichen standen auf Krieg, nachdem sich die DemonstrantInnen im Mai, unter anderem mit russischer Hilfe, bewaffnet hatten. Und Kiew nahm die Herausforderung an. Kiew kämpfte nun gegen «Terroristen», die «Volksrepubliken» der Ostukraine kämpften gegen die «Faschisten der Kiewer Junta».

Die wenigen Stimmen, die sich in Mahnwachen vor Kiewer Regierungsgebäuden für einen sofortigen Waffenstillstand einsetzten, wurden ignoriert. Das hat sich in der jüngsten Zeit geändert. Nun fordern auch hohe Militärs, Kämpfende und Maidan-AktivistInnen einen Waffenstillstand und Frieden. Ende August waren die Sängerin Ruslana und Generaloberst Wladimir Ruban nach Donezk gereist. Was sie dort sahen, veranlasste beide, Anfang September auf einer Pressekonferenz in Kiew einen sofortigen Waffenstillstand zu fordern. «Ich habe keine Russen dort gesehen, nur Bewohner von Donezk», berichtet Ruslana, deren Wagen in Donezk beschossen worden war, auf der Kiewer Pressekonferenz. Was dort passiere, kritisiert die Sängerin, sei auch Poroschenko zuzuschreiben. Dieser habe sie nicht einmal anhören wollen, so die ehemals gefeierte Maidan-Aktivistin.

Aufgeschobene Rückkehr

Der nun am 5. September in Minsk ausgehandelte Waffenstillstand ist sehr fragil. «Nur ein einziger Schuss der ukrainischen Truppe, und der Waffenstillstand ist zu Ende», hatte ein Vertreter der «Volksrepublik Lugansk» verlauten lassen.

Die Verkäuferin Valeria, die in der Nähe von Lugansk wohnt, berichtet telefonisch, auch nach Abschluss des Waffenstillstandsabkommens seien BewohnerInnen ihrer Stadt vereinzelt von einem Freiwilligenregiment des Oligarchen Ihor Kolomoiski beschossen worden. Kolomoiski ist Gouverneur des Bezirks Dnjepropetrowsk.

Und Tatjana aus Zugres, die während der Kämpfe in eine von Kiew kontrollierte Stadt in der Ostukraine flog, sagt: «Eigentlich wollte ich sofort nach der Unterzeichnung des Waffenstillstands zurückkehren. Doch ich sehe, wie neue ukrainische Truppen von hier auf dem Weg in den Donbass unterwegs sind. Dabei hatte ich eigentlich erwartet, dass die ukrainischen Truppen nun vom Krieg wieder zurückkommen. Ich fürchte, der Waffenstillstand ist nur eine kurze Verschnaufpause, in der sich beide Seiten umgruppieren. Ich glaube nicht, dass der Waffenstillstand lange halten wird.»

Die Sprache zügeln

Laut Amnesty International (AI) steht in der Region von Lugansk auch das Freiwilligencorps Aidar gegen die Separatisten im Einsatz, dem AI in einem am 8. September veröffentlichten Bericht Kriegsverbrechen vorwirft. Im Gebiet der bis zuletzt umkämpften Stadt Mariupol steht zudem das Freiwilligencorps Asow an der Front, bei dem es sich laut der britischen Zeitung «Telegraph» um eine «Neonazi-Brigade» handelt. Ob solche Verbände, die möglicherweise ihre eigenen Ziele verfolgen, wirklich an einem Frieden interessiert sind, darf bezweifelt werden. Provokateure auf beiden Seiten haben so leichtes Spiel, den Krieg neu zu entfachen.

Eine Entschärfung der Situation würde voraussetzen, dass beide Seiten ihre Sprache zügeln. Kiew müsste aufhören, die Aufständischen im Osten der Republik pauschal als «Terroristen» zu bezeichnen, während diese die Kiewer Regierung nicht länger als «faschistische Junta» abstempeln sollten. Dass nun bei den Waffenstillstandsverhandlungen vom «Gefangenentausch» die Rede war, ist kein Zeichen der Entspannung. Den Gefangenen sollte ein Recht auf Freiheit zugestanden werden. Solange von Tausch gesprochen wird, wird sich diejenige Seite, die weniger «Tauschmaterial» anzubieten hat, auf die Jagd nach weiteren Geiseln machen.

Ein weiterer Faktor, der die Ukraine nach wie vor destabilisiert, ist der Einsatz russischer Soldaten aufseiten der Aufständischen im Osten des Landes. Die Erkenntnisse russischer Soldatenmütter legen nahe, dass mehrere Tausend russische Soldaten in diesem Krieg im Einsatz sind. Auch für AI gibt es inzwischen «keine Zweifel mehr», dass Russland den Krieg in der Ukraine durch direkte Teilnahme und via Unterstützung der Separatisten angeheizt hat.

Wenn der Waffenstillstand halten soll, muss Russland seine kämpfenden Staatsbürger aus der Ukraine zurückholen. Andererseits sollte aber auch die Nato davon absehen, vom 13. bis 26. September im Westen der Ukraine ein Militärmanöver abzuhalten. Denn auch das trägt nicht zur Entspannung bei.

Provozieren und eskalieren

Die westlichen Staaten sollten im Ukraine-Russland-Konflikt der Diplomatie mehr Gewicht geben – das fordern drei ehemalige US-Botschafter in Moskau, Jack Matlock, Thomas Pickering und James Collins, in einem Artikel in der «New York Times». Die Antwort des Westens auf die russische Intervention und Gewalt in der Ukraine habe bislang vor allem darin bestanden, ebenfalls zu eskalieren – «mit wenig oder keiner Gewissheit einer Verbesserung der Situation».

Matlock bezeichnet in einem Interview mit der «taz» die Reaktion Russlands auf die politischen Veränderungen in der Ukraine als «komplett vorhersehbar». Der Westen und speziell die Nato hätten Russland zuvor immer wieder provoziert.