Stellvertreterkrieg in Syrien: Jetzt kommt die Zeit der Schutzherren
Die russische Intervention in Syrien hat das Machtgefüge im Nahen Osten weiter zugunsten des Iran verschoben. Droht nun die totale Eskalation?
Im Kalten Krieg war es noch einfacher. Da schien es nur Kommunisten und Antikommunisten zu geben. Wenn sich Erstere irgendwo auf der Welt durchzusetzen drohten, bewaffneten die USA Letztere. Wenn Erstere anderswo gute Chancen auf eine Machtübernahme hatten oder aber schwächelten, durften sie auf die Unterstützung der Sowjetunion zählen.
Die klassischen Stellvertreterkriege der sechziger und siebziger Jahre in Vietnam, Angola, Äthiopien und Afghanistan waren die Folge. Zuweilen griff einer der Schutzherren direkt in einem Drittland ein; die USA etwa in Vietnam, die Sowjetunion in Afghanistan. Nur eines war tabu: dass sich SoldatInnen der USA und der Sowjetunion direkt gegenüberstanden. Beide Supermächte wussten, dass dies mit viel zu grossen Risiken verbunden wäre – inklusive der gegenseitigen atomaren Vernichtung.
Eine fatale Einigung
Seit dem 30. September bombardieren Truppen der russischen Luftwaffe Ziele in Syrien. Schon länger fliegen die USA Bombenangriffe. Eine symbolisch und historisch aufgeladene Konstellation, die zu aufgeregten Kommentaren inspiriert. Wobei fast nur die Rolle Russlands analysiert – oder vielmehr: über die Beweggründe des Präsidenten Wladimir Putin psychologisiert – wird. So gab die Redaktion der «Süddeutschen Zeitung» am Montag eine weitverbreitete Sichtweise wieder, als sie schrieb, Ziel der «überstürzten Entscheidung», die Putin im kleinen Kreis getroffen habe, sei: «aus der Isolation herauskommen und wieder als Weltmacht mitspielen».
Wenn man allerdings nüchtern nach Syrien schaut und die Situation als Stellvertreterkrieg begreift, wird das verstärkte Eingreifen Moskaus als naheliegender strategischer Schritt verständlich. «Es liegt in der Logik von Stellvertreterkriegen, dass die lokalen Konfliktparteien immer dann zusätzliche militärische Hilfe von aussen bekommen, wenn sie ins Hintertreffen geraten.» Das sagte Heiko Wimmen, Syrienexperte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, vor über zwei Jahren (siehe WOZ Nr. 25/2013 ). Damals ging es um eine mögliche Aufrüstung der «gemässigten Opposition» im Umfeld der Freien Syrischen Armee (FSA) durch die USA und europäische Staaten. Dies würde «im Gegenzug die weitere Aufrüstung der Regierungsseite und eine Erhöhung des Gewaltniveaus bewirken», sagte Wimmen im Juni 2013.
Heute sieht sich Wimmen in seiner Einschätzung bestätigt. Die russische Intervention ist eine Antwort auf eine Einigung der Türkei und Katars mit Saudi-Arabien: Sie beschlossen im Frühjahr, ihre Syrienpolitik zu koordinieren und nicht unterschiedliche Gruppierungen zu unterstützen, die sich zuweilen gegenseitig bekämpft hatten. In der Folge wurde die salafistische Rebellenkoalition Dschaisch al-Fatah gegründet. Sie wird von den grossen Dschihadgruppen Ahrar al-Scham und Al-Nusra-Front dominiert; daneben sind ein paar moderatere Gruppen dabei, die der US-Geheimdienst bewaffnet. Mit dem pragmatischen Ziel, zuerst einmal die syrische Armee von Präsident Baschar al-Assad zu bekämpfen, eroberte die Koalition Ende März gleich weite Teile der nordwestsyrischen Provinz Idlib.
«Durch die Dschaisch al-Fatah ist Assad im Norden enorm unter Druck geraten», sagt Wimmen. «Um diese Situation zu ändern, mussten die Schutzherren Assads einspringen: Russland und Iran.» Teheran hat bisher vor allem Militärberater, Erdöl, Kredite und indirekt über die libanesische Hisbollah Kämpfer bereitgestellt; jetzt gibt es Hinweise, dass iranische Revolutionsgarden in Syrien eingetroffen sind. Russland hat der syrischen Armee bisher die schweren Waffen geliefert – und greift ihr nun auch mit seiner Luftwaffe unter die Arme.
Klar, dass für Assad und Russland die Bekämpfung der Dschihadgruppierung Islamischer Staat (IS) keine Priorität hat. Der IS hat sich zwar in weiten Teilen des Landes ausgebreitet, ist aber keine direkte Bedrohung für das Regime, das sich mehr und mehr auf ein Kernland an der Mittelmeerküste und im zentralsyrischen Korridor konzentriert. So bombardiert Russland in den meist über zehn Luftangriffen pro Tag vor allem Stellungen der Dschaisch al-Fatah an der Grenze dieses Kernlands.
Die USA sind damit konfrontiert, dass Russland US-unterstützte Gruppen bombardiert, ihrer Luftwaffe in die Quere kommt und Assad bald als Verhandlungspartner rehabilitieren könnte. «Das ist eine strategische Niederlage, für die die USA selbst verantwortlich sind», sagt Lina Khatib, bis vor kurzem Direktorin des Carnegie Middle East Center in Beirut und heute Wissenschaftlerin bei der Arabischen Reforminitiative in London. «Die USA wären die einzige Macht, die alle verhandlungswilligen Akteure an einen Tisch bringen könnte.» Washington habe diese Möglichkeit nicht genutzt und keine Lösungen präsentiert. Deshalb nutze Moskau nun den Freiraum.
Ziel: Verhandlungsmacht
Möglicherweise dienen die russischen Bombenangriffe als Vorbereitung einer grossen Gegenoffensive der Regierungsarmee in der Provinz Idlib, so Wimmen. Was das Regime bisher nur ankündigen konnte, könnte es vielleicht bald umsetzen – vor allem, falls der Iran eine grössere Zahl an Revolutionsgarden als Bodentruppen entsendet.
Dabei ist allen Beteiligten klar, dass der Krieg nicht militärisch zu gewinnen ist. Gemäss Khatib und Wimmen sind die militärischen Interventionen ein politisches Mittel, um die jeweils eigene Verhandlungsposition zu stärken. Zwei Tage nach dem Start der russischen Luftschläge verkündete der syrische Aussenminister, die Regierung wolle sich an den geplanten Uno-Gesprächen beteiligen. Ziel dieser «Genf III»-Konferenz ist, dass sich die lokalen und internationalen Konfliktparteien auf eine Lösung verständigen.
Das Problem des Uno-Friedensprozesses aber bleibt, dass die extremsten Rebellengruppen gar nicht daran beteiligt sind. Sie würden sich kaum je an einen vereinbarten Waffenstillstand halten. «Assad ist dem Ziel einen Schritt nähergekommen, sich politisch zu rehabilitieren und höchstens ein paar Oppositionelle in unwichtigen Regierungspositionen zu dulden», meint Wimmen.
Doch die Zeit für eine Deeskalation drängt. Die in Nordwestsyrien verbliebene Bevölkerung ist nun neben den Fassbomben des Regimes auch den Luftangriffen der Russen ausgesetzt. Von diesen profitiert letztlich auch der IS, weil dessen stärkste Widersacher – die Rebellengruppen der FSA und der Dschaisch al-Fatah – geschwächt werden.
Jemen als Teil einer Lösung
Geopolitisch ist nicht so sehr das Aneinanderreiben der USA und Russlands das Problem, sondern das Aufeinanderprallen der verfeindeten Grossmächte der Region: Saudi-Arabiens und des Iran. Das Selbstverständnis des saudischen Königshauses als arabische Ordnungsmacht ist bereits durch das internationale Atomabkommen mit dem Iran infrage gestellt worden. Seither kann sich die persische Grossmacht noch stärker im arabischen Kernland einmischen. Und nun auch noch die russische Intervention. «Saudi-Arabien ist dabei, zusammen mit Katar die Islamisten noch weiter aufzurüsten», sagt Khatib. «Die Situation wird vollends eskalieren.»
Diese Gewaltspirale betrifft längst nicht nur Syrien. Saudi-Arabien und der Iran stehen sich auch im Jemen als Schutzherren gegenüber. Dort greift die saudische Luftwaffe massiv ein, während der Iran die Huthi-Rebellen aus der Ferne unterstützt. Wie früher die Antipoden des Kalten Kriegs hüten sich die Kontrahenten des arabisch-persischen Raums, sich direkt zu bekämpfen – zumindest noch. Auch eine ungewollte Eskalation ist möglich, weil die Gegenspieler – anders als im Kalten Krieg – nicht miteinander kommunizieren.
Lina Khatib hält den Uno-Friedensprozess längst für gescheitert. Die einzige Chance, um die totale Eskalation im Nahen Osten zu verhindern, bestehe darin, dass sich Saudi-Arabien und der Iran auf Lösungsansätze in Syrien und im Jemen einigen. «Jetzt sollten die USA endlich aufwachen», sagt Khatib. Als Alliierte Saudi-Arabiens und nach dem Atomdeal mit dem Iran könnten die USA die beiden Regionalmächte tatsächlich an einen Tisch bringen.