Palästina–Israel: «Wochen später spüre ich jeweils eine bleierne Müdigkeit»

Nr. 38 –

Der Krieg ist für die israelische Künstlerin Einat Tuchman Teil ihres Lebens. Die schwedische Fotografin Loulou d’Aki reist dagegen freiwillig nach Gaza. An der Biennale Bern, dem Festival für zeitgenössische Künste, sprechen sie über den Alltag und die Rolle der Kunst in Kriegszeiten.

Einat Tuchman: «Israel kontrolliert den Himmel, und die Hamas kontrolliert, was sich unter der Erde befindet.» – Loulou d’Aki: «Und die normalen Leute? Kein Mensch aus Israel geht jemals in den Gazastreifen.» Foto: Loulou d’Aki

Einat Tuchman, Loulou d’Aki, was für Auswirkungen hat die tägliche Erfahrung von Angst, Stress und Schmerz?
Einat Tuchman: Ich denke, du solltest beginnen.

Loulou d’Aki: Ich glaube, es betrifft eher dich …

Tuchman: In Israel sind es weniger die konkreten Auswirkungen als die Hysterie und die Anspannung, der Krieg hat eher eine mentale Wirkung auf die Menschen.

D’Aki: Diese psychologischen Schäden gibt es in Gaza auch. Was jedoch mich betrifft: Wenn ich ein verletztes oder totes Kind und den Schmerz der Eltern sehe, fühlt sich dieser Krieg entsetzlich nutzlos an. Ja, es ist ein Gefühl totaler Sinnlosigkeit. Bin ich hingegen am Arbeiten, gerate ich in einen Zustand der vollständigen Konzentration. In einem hektischen Durcheinander verstörter Menschen, die verstreute Körperteile zusammensuchen – es ist heiss, es stinkt –, muss ich mir einen Weg suchen, um meine Bilder machen zu können. Erst Wochen später spüre ich jeweils eine bleierne Müdigkeit. Schlimm sind die Nächte, da liege ich im Bett, höre die Bomben einschlagen und weiss, in diesem Moment sterben in unmittelbarer Nähe Menschen.

Tuchman: Diese Panik in Israel hat auch mit den Kindern zu tun. Mütter wollen ihre Kinder schützen, sie wissen nicht, was sie tun sollen, wenn der Alarm losgeht. Aber wir wissen, auf der anderen Seite sind diese Bedrohung und diese Angst so ungleich viel verheerender. Mütter haben dort nicht nur Angst: Ihre Kinder werden tatsächlich getötet. Okay, man darf eine Angst nicht gegen eine andere Angst ausspielen. Aber diese Unterschiede sind einfach nicht zu übersehen.

Kann in akuter Gefahr eine pazifistische Haltung beibehalten werden?
Tuchman: Die politische Haltung meiner Familie in Israel rutscht immer mehr nach rechts. Da gibt es keine Möglichkeit mehr, über unterschiedliche Meinungen zu sprechen. Die Emotionen kochen über. Würde ich in einer Bar aussprechen, was ich wirklich denke, ich müsste um meine Sicherheit fürchten. Das geht bis zur physischen Gewalt. So bleibe ich in meinem Kopf eingesperrt. Als die Tunnels entdeckt worden sind, sind alle ausser sich gewesen: Siehst du! Sie bauen Tunnels, um uns zu vernichten! Es war nicht möglich, einfach mal eine Frage zu stellen.

D’Aki: Ich bin grundsätzlich gegen Hass und Gewalt. Aber die israelische Vorgehensweise hat mich wütend gemacht. Ich hatte das Gefühl, viele der Raketen kamen ungezielt, richtungslos. Israel hat eine ausgezeichnete Armee, sie können mit Drohnen alles aus der Luft kontrollieren – es ist für mich nicht nachvollziehbar, warum so viele Zivilisten sterben mussten. Klar, die Tunnels mussten zerstört werden, und die Hamas errichtete überall Raketenstationen, auch in Wohngebieten. Aber ich kann das nicht entschuldigen.

Tuchman: Wie sind die Beziehungen zwischen der Bevölkerung und der Hamas-Führung?

D’Aki: Viele sind eher für die Fatah. Aber in der Regel sagen sie nicht, was sie denken.

Tuchman: Fürchten sie sich?

D’Aki: Fragt man sie nach einer politischen Lösung oder nach Schuldigen in den eigenen Reihen, geben sie keine Antwort. Ja, es gibt viel Furcht.

Tuchman: Ich habe Hass empfunden. Das ist kein guter Zustand. Was mich betrifft, geht es um meine Mutter, die Freunde meiner Mutter, meinen Bruder. Ich versuchte zu schweigen, aber ich kann das nicht. Am Ende wollte ich einfach niemanden mehr sehen.

D’Aki: Und deine Freunde?

Tuchman: Fast alle haben Israel verlassen.

D’Aki: Warum?

Tuchman: Im Grunde müssen alle Linken das Land verlassen. In Berlin findest du eine grosse Diaspora solch mentaler Flüchtlinge. Andererseits geht es doch nicht, dass alle abhauen! Man müsste doch was tun! Denn dieses Land ist so unglaublich schön! Ich machte mit meiner Mutter einen Ausflug, und wir sassen am Ufer eines Sees, ein wahres Paradies. Und plötzlich – aus dem Nichts – eine Rakete! Alle Leute schrien: Was sollen wir tun! Und sprangen ins Wasser. What the fuck! (lacht)

Gabs auch Momente alltäglicher Normalität?
Tuchman: In Israel war der Krieg nicht wirklich auf dem Boden, er war über uns. Mehrmals am Tag gab es diese Minuten der Bedrohung. Die Leute verliessen ihre Autos und versteckten sich unter einem Baum oder in einem Hauseingang. Beherrscht von diesem Instinkt, sich zu schützen, ohne bewusst an den Tod zu denken. Diese Normalität ist eine Art Verrücktheit. Sie macht die Leute hart und selbstbezogen. Es geht ums Überleben. Man richtet sich ausschliesslich an materiellen Werten aus und hält sich an Statussymbolen fest: grosses Haus, grosses Auto.

D’Aki: Ich habe Kinder gebeten, ihre Wünsche zu zeichnen. Und sie zeigten mir Flugzeuge, Raketen und Drohnen. Als ich sie bat, sich positive Ziele auszudenken, zeichnete ein Junge eine Rakete, die das Haus seiner Tante zerstörte. Er mochte sie wohl nicht.

Tuchman: Hast du Kontakt zur israelischen Armee gehabt?

D’Aki: Nach intensivem Raketenbeschuss durch die Hamas übte sie jeweils heftige Vergeltungsschläge aus. Oder sie bombardierte den Hafen. Manchmal riefen sie an und warnten uns. Ich wohnte mit anderen JournalistInnen in einem Hotel in der Nähe des Meers …

Tuchman: Ein poetisches Bild: Israel kontrolliert den Himmel, und die Hamas kontrolliert, was sich unter der Erde befindet.

D’Aki: Ja, man befindet sich in einem Zirkus. Die einen machen Kunststücke am Himmel, die andern unter dem Boden. Und die normalen Leute? Kein Mensch aus Israel geht jemals in den Gazastreifen. Und wer aus dem Gazastreifen nach Israel will, braucht eine Bewilligung. Das sind Nachbarn, die sich kaum kennen.

Tuchman: Ist es nicht seltsam, sich freiwillig dort aufzuhalten und diese Tragödie zu dokumentieren? In Gaza wäre ich schlicht durchgedreht.

D’Aki: Ich hatte die Möglichkeit, jederzeit zu gehen.

Was heisst es, in einem Umfeld zu leben, das von der Prämisse geprägt ist, getötet zu werden oder andere töten zu müssen?
D’Aki: Für Kinder ist das schlimm. Der Waffenstillstand wurde mit Waffen und Schüssen gefeiert. Auch die Begräbnisse. Kinder spielen fast nur mit Gewehren oder imitieren Gefechte. Du siehst kleine Jungs, die gekleidet sind wie Hamasführer und dauernd auf der Erde herumrobben wie Kämpfer. Für viele Kinder sind die Hamasführer grosse Helden. Das ist auch eine Art der Indoktrination.

Tuchman: In Israel gibt es den Reflex, ausschliesslich die andere Seite zu dämonisieren. Wenn jedoch Kinder sterben, dann sind das keine arabischen oder jüdischen Kinder, sondern einfach Kinder. Ich weiss, ich gehöre zu jener Kriegspartei, die dieses Elend verursacht. Und wenn ich sehe, dass die Leute in meiner Umgebung den Tod dieser Kinder nur im Kontext ihrer Zugehörigkeit wahrnehmen, dann erreicht das die Grenze des Unerträglichen.

Wie ist es möglich, als politisch ausgerichtete Künstlerin angesichts einer so schlimmen Situation weiterhin Kunst zu machen?
D’Aki: Ich sehe mich nicht als Künstlerin. Ich bin Fotografin. Und die Situation des Kriegs ist der einzige Grund, weshalb ich dort gewesen bin. Gaza ist für viele Menschen unzugänglich. Also zeige ich, was dort geschieht.

Tuchman: Denkst du, dass sich dadurch auf der politischen Ebene etwas verändert?

D’Aki: In diesem Krieg gibt es so viele Verletzungen und Beschädigungen. Meine journalistische Aufgabe besteht darin, diese Auswirkungen zu dokumentieren. Und die Leute in Gaza akzeptieren meine Arbeit. Sie wollen, dass ich ihre Verzweiflung festhalte. Sie holen mich, damit ich auch ihre ganz intimen, persönlichen Momente fotografiere. Zum Beispiel die Trauer im Haus, bevor man zum Begräbnis aufbricht. Es ist für sie von Bedeutung. Natürlich glaube ich nicht, dass meine Arbeit politische Prozesse beeinflusst.

Tuchman: Für mich gäbe es eigentlich nur die Lösung, mein ganzes Wissen über Kunst in eine politische Kunstschule zu investieren. In einer Gegend wie zum Beispiel der Westbank. Es braucht Aufklärung und eine Revolution der Freundschaft. Ich fühle mich jedoch nicht bereit, mein Leben für eine solch mühsame und gefährliche Aufgabe zu opfern.

Gibt es einen spezifisch westeuropäischen Blick auf den Krieg im Nahen Osten?
Tuchman: Merkwürdig war, dass dieser Krieg in der Berichterstattung an erster Stelle stand. Alle sprachen darüber. Alle kritisierten Israel.

D’Aki: Es war aber auch ein schrecklicher Krieg.

Tuchman: Es gibt andere schreckliche Kriege. Was ich sagen will, ist, dass Israel aus europäischer Sicht eher westliche Werte repräsentiert und Palästina die Verkörperung des traditionellen Orients darstellt. Der Konflikt zwischen diesen Kräften übt eine bedrohliche, aber auch hypnotische Anziehungskraft aus. Man liebt es, darüber zu streiten, ihn zu analysieren. Dieselbe Spannung entstand, als die USA Afghanistan bombardierten. Auch hier: ein modernes Land gegen ein traditionelles Land. Und in Europa? Die Schotten, die Katalanen, die Flamen entdecken ihre Traditionen, ihre Mythen und betonen ihre Andersartigkeit.

D’Aki: Warum lebst du in Brüssel?

Tuchman: Es existieren so viele Gruppen zusammen im selben schmutzigen Topf.

D’Aki: Meltingpots gibt es in vielen grossen Städten.

Tuchman: In Berlin wurde ich immer als Araberin gesehen. In Brüssel kann ich mich bewegen, ohne dass mir von aussen gleich eine Identität zugeschrieben wird. Ich bin einfach Teil meiner Umgebung. Und hier habe ich arabische Freunde gefunden. Ich höre ihre Musik. Ich feiere mit ihnen ihre Feste. All das, was man mich zu Hause gelehrt hat zu hassen.

Wer wird diesen Krieg gewinnen?
Tuchman: Gott.

D’Aki: Hat er ihn nicht bereits gewonnen? Letztlich geht es ja ausschliesslich um ihn … (beide lachen)

Diesseits und jenseits

Einat Tuchman, 1968 in Israel geboren, lebt in Brüssel. In ihren Arbeiten als Tänzerin, Choreografin und Performerin setzt sie sich mit Strukturen ökonomischer Macht und Konstruktionen nationaler Identität auseinander. Beziehungsfähigkeit wie auch gemeinschaftliche Arbeitsformen stehen im Zentrum ihres Schaffens.

Die Fotografin Loulou d’Aki (36) kam in Schweden zur Welt und arbeitet sowohl für Zeitungen und Zeitschriften wie die «Zeit», den «Stern» oder das «New York Magazine» wie auch für Organisationen, etwa für Unicef oder Save the Children. Viele ihrer Projekte thematisieren Wünsche und Leidenschaften junger Menschen.

Während des Gazakriegs im Juli und August dieses Jahres hielt sich Einat Tuchman bei ihrer Familie in Gedera südlich von Tel Aviv auf. Loulou d’Aki arbeitete zur gleichen Zeit als Journalistin mitten im Gazastreifen.

Biennale Bern

Loulou d’Aki und Einat Tuchman sind sich im Rahmen der Biennale Bern begegnet: D’Aki fotografiert seit 2010 für das Festival, Tuchman war Teil der Kunst-Allmend, die in der Dampfzentrale auf Einladung der Biennale gemeinschaftliche wirtschaftliche Modelle für die Kunst erforschte.

Das Festival für zeitgenössische Künste, von grossen und kleinen Kulturinstitutionen der Stadt Bern gemeinsam mit der Hochschule der Künste (HKB) veranstaltet, hat sich dem disziplinenübergreifenden Kunstschaffen verschrieben. Die Biennale Bern dauert noch bis Samstag.

www.biennale-bern.ch