Fussball und andere Randsportarten: Grosse Spiegel fürs Ich
Die wachsende Kluft zwischen grossen und kleinen Klubs
Seit vielen Jahren ist der FC Basel das Mass aller Dinge im Schweizer Fussball. Dennoch wäre es ein Irrtum zu glauben, Basel sei eine Fussballstadt. Zwar gibt es in der Metropole am Rhein neben dem FCB weitere Fussballklubs mit über hundertjähriger Tradition wie etwa Nordstern, Concordia, Old Boys oder den FC Black Stars, aber zurzeit ist das Scheinwerferlicht ausschliesslich auf den grossen FC Basel gerichtet. Natürlich arbeiten auch die anderen Basler Fussballklubs, sie bilden Kinder und Jugendliche aus, sie leisten Integrationsarbeit – aber sie werden vom Fussballpublikum praktisch nicht wahrgenommen.
Um diesen Sachverhalt zu verdeutlichen, genügt ein einfacher Zahlenvergleich: Zu einem Spiel des FC Basel kommen bis zu 300-mal mehr Zuschauerinnen und Zuschauer als zu einem Spiel des gegenwärtig zweiterfolgreichsten Klubs der Stadt.
Am vergangenen Samstagnachmittag trug der BSC Old Boys Basel ein Heimspiel im Stadion Schützenmatte aus. Die Schützenmatte ist ein komfortables Stadion. Es liegt zentral und ist mit dem öffentlichen Verkehr sehr gut erreichbar. Das Stadion hat eine Kapazität von 8000 Plätzen. Das Wetter hätte an besagtem Nachmittag nicht besser sein können. Beim Match handelte es sich um ein Meisterschaftsspiel der Promotion League, der dritthöchsten Spielklasse des Schweizer Fussballs. In dieser Liga spielen die besten Amateurteams des Landes, diejenigen also, die unmittelbar nach den zwanzig Profiklubs klassiert sind. Für LaiInnen ist das Niveau zwischen Spielen der Promotion League und einem Profimatch kaum zu unterscheiden. Während aber beim FCB nicht selten mehr als 30 000 Fans zu den Spielen pilgern, waren es am letzten Samstag beim BSC Old Boys gerade mal 111 Personen.
Fussballerisch lässt sich diese Diskrepanz beim Publikumsinteresse der beiden Stadtklubs nicht erklären. Stünden die Publikumszahlen in direktem Zusammenhang mit dem Unterhaltungswert, müsste ein Match des FC Basel 300-mal unterhaltsamer sein als ein Spiel der Old Boys. Aber schon wer behaupten wollte, die FCB-Spiele seien doppelt so unterhaltsam wie die Old-Boys-Spiele, würde den Unterklassigen unrecht tun. Der Profifussball ist nicht 300-mal besser als der Amateurfussball, aber er hat 300-mal mehr Aufmerksamkeit, 300-mal mehr Medienpräsenz – und 300-mal mehr Möglichkeiten, Geld zu generieren.
Wenn nun diese wachsende Kluft zwischen grossen und kleinen Klubs fussballerisch nicht zu erklären ist, muss die Ursache anderswo liegen. Zum Beispiel in der Tatsache, dass wir uns in den letzten Jahren zu einer Gesellschaft entwickelt haben, die nach mehr und noch mehr Events lechzt. Wo viele Leute vermutet werden, gehen erfahrungsgemäss noch mehr Leute hin. Das gilt für die Fussballspiele genauso wie für eidgenössische Schwingfeste, Filmfestivals, Streetparades, Open-Air-Rockfestivals und so weiter.
Der Homo-sapiens-Selfie ist nur teilzeitlich mit sich selbst beschäftigt. Der wachsende Narzissmus einer Gesellschaft, deren Mitglieder sich fast ständig fast nur mit sich selbst beschäftigen, scheint nach einem Ausgleich in Form von möglichst grossen Events zu rufen. Massenveranstaltungen und Narzissmus sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Narzissmus braucht per Definition eine Spiegelung. Massenevents sind grosse Spiegel, in denen wir uns selbst zuwinken.
So gesehen, sind die 111 Personen, die an einem Samstagnachmittag einem Promotion-League-Spiel in einem Basler Stadion beiwohnen, mit dem handverlesenen Publikum eines Jazzkellers zu vergleichen. Sie können für sich in Anspruch nehmen, nicht einen Spiegel, sondern Inhalt gesucht zu haben.
Damit soll nichts gegen Spitzenfussball gesagt sein. Auch in den grossen, ausverkauften Stadien finden sich vermutlich jeweils 111 Leute, die wirklich des Spiels wegen hingehen.
Pedro Lenz ist Schriftsteller und lebt in Olten. Fussball interessiert ihn in leeren und in vollen Stadien.