Strommarktöffnung: Wer wenig hat, zahlt mehr fürs Licht
Eigentlich sollte der Strommarkt bereits vollständig liberalisiert sein. Die Kernschmelzen in Fukushima blockierten das Geschäft. Jetzt hat es Bundesrätin Doris Leuthard plötzlich eilig. Es geht aber nicht nur um Ökologie, sondern auch um soziale Gerechtigkeit.
Bald soll der Strommarkt vollständig liberalisiert werden. So will es Energieministerin Doris Leuthard. Letzte Woche schickte sie den «Bundesbeschluss über die zweite Etappe der Strommarktöffnung» in die Vernehmlassung.
Bislang können nur Firmen, die viel Strom brauchen, frei wählen, bei wem sie ihn einkaufen wollen (vgl. «Die Strommarktöffnung»). Kleinere Betriebe und alle privaten Haushalte sind immer noch an das lokale Elektrizitätswerk gebunden. In vier Jahren soll damit Schluss sein, dann sollen alle ihren Strom da kaufen dürfen, wo er am billigsten ist. Liest man den Begleitbericht zum Bundesbeschluss, ist das eine gute Sache, weil die KonsumentInnen endlich auch von den Segnungen des freien Markts profitieren können.
Der WWF reagierte umgehend: «Ohne flankierende Massnahmen wird dieses Projekt zur Anti-Energiewende.» Schon heute fliesse hauptsächlich schmutziger Strom aus Uran, Gas und Kohle durch Schweizer Steckdosen: «Dieser Anteil könnte noch steigen, wenn der Markt vollständig liberalisiert wird und die Dreckstromüberschüsse in den Nachbarländern damit noch einfacher in die Schweiz fliessen.»
Millionen Haushalte ohne Strom
Bei Strom geht es um die Umwelt – aber nicht nur. Wenn die totale Liberalisierung kommt, wird es auch um soziale Gerechtigkeit gehen. Das zeigt Deutschland, das schon seit 1998 einen freien Strommarkt kennt. Als er liberalisiert wurde, versprach man den Leuten, dank des Wettbewerbs würden die Strompreise sinken. In Wahrheit sind sie aber massiv gestiegen: Heute bezahlen die PrivatkundInnen in Deutschland verglichen mit dem Preis im Jahr 2000 bereits das Doppelte für eine Kilowattstunde Strom. Insbesondere für FürsorgeempfängerInnen – die sogenannten Harz-IV-BezügerInnen – ist das eine fatale Entwicklung.
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung errechnete, dass der Anteil der Stromrechnung an den Gesamtausgaben beim ärmsten Zehntel der Haushalte von knapp 3 Prozent im Jahr 2000 auf über 4,5 Prozent im letzten Jahr gestiegen ist. Für die reichsten zehn Prozent stiegen die Ausgaben aber nur von 1,8 auf 2 Prozent. «Ärmere Menschen geben inzwischen einen mehr als doppelt so grossen Anteil ihres Einkommens für Strom aus wie Reiche», schreibt der deutsche Journalist Malte Kreutzfeldt in seinem höchst lesenswerten Buch «Das Strompreis-Komplott».
Wenn nun jemand mit knappem Budget seine Stromrechnungen nicht begleicht, erwartet ihn Ungemach. Die Elektrizitätswerke dürfen den Strom kappen, wenn ein Haushalt mit hundert Euro im Verzug ist. Nach Angaben der Deutschen Netzagentur wurden 2012 über drei Millionen Haushalte vom Netz abgehängt.
So ist das am «freien Markt». Wer nicht zahlen kann, fliegt raus und hat es schwer, nachher wieder reinzukommen. Theoretisch könnten alle zum günstigsten Anbieter wechseln. Doch diese haben das Recht, Leuten die Stromlieferung zu verweigern, falls eine «Bonitätsprüfung» ergibt, dass sie ökonomisch schlecht dastehen. Die Bonitätsprüfung wird von Privatfirmen vorgenommen – wie sie zustande kommt, ist intransparent.
Abgesehen davon sind die Fürsorgegelder zu knapp bemessen: «Während 2013 im Hartz-IV-Regelsatz von 382 Euro gerade einmal 32 Euro für ‹Strom und Wohnungsinstandhaltungen› vorgesehen waren, lag die reale Stromrechnung eines Singlehaushalts im Schnitt bei 39 Euro», schreibt Kreutzfeldt. Das Geld kann gar nicht reichen, um die Stromrechnung zu zahlen. Caritas Deutschland rechnete aus, dass den Arbeitslosen noch weit mehr fehlt, weil sie ja die meiste Zeit zu Hause verbringen und deshalb einen höheren Strombedarf haben als Erwerbstätige. Abgesehen davon kaufen sich Wohlhabende die energieeffizientesten Geräte und sparen Strom – in den Haushalten der Armen stehen die alten Stromfresser, weil sie sich neue Kühlschränke oder TV-Geräte nicht leisten können.
In der Schweiz funktioniert die Stromversorgung gut. Kaum jemand kennt seine Stromkosten, was bedeutet, dass sie kein ökonomisches Problem darstellen. Das dürfte sich ändern, sobald der Markt vollständig liberalisiert wird.
Wie die heiklen Punkte in einem vollständig liberalisierten Markt geregelt werden sollen, steht weder im Bundesbeschluss noch im begleitenden Bericht. Das Einzige, was drinsteht: Man will Wettbewerb, weil Wettbewerb gut sei für die KonsumentInnen. Derweil einmal mehr Wettbewerb inszeniert wird, wo es eigentlich keinen Wettbewerb gibt – ähnlich wie bei der Grundversicherung der Krankenkassen.
Konkret schlägt Leuthard vor, dass alle das Recht haben sollen, einmal pro Jahr ihren Anbieter zu wechseln. Die Haushalte sollen aber immer die Möglichkeit haben, zu den sogenannten Grundversorgern zurückzukehren. Das werden wohl die heutigen Elektrizitätswerke sein, die der öffentlichen Hand gehören.
Energiewende versus Marktöffnung
Heute bemühen sich viele Gemeinden, eine ökologische Stromversorgung zu organisieren. Sie betreiben ihre eigenen Wasserkraftwerke und kaufen mittels langfristiger Verträge Strom ein. Über die Jahre hinweg ermöglicht das eine zuverlässige, konstante, günstige – aber nicht billige – Versorgung. Wenn die Gemeinden nun aber stets damit rechnen müssen, dass ein Grossteil ihrer KundInnen abspringt, torpediert das jegliche langfristige Strategie.
Energieministerin Leuthard scheint völlig unkoordiniert unterwegs zu sein. Nach der Atomkatastrophe in Fukushima versprach sie den Atomausstieg, lancierte die «Energiestrategie 2050» und pries die Energiewende. Nichts davon ist umgesetzt. Die Energiestrategie wird erst in der kommenden Session beredet. Und jetzt kommt Leuthard mit der Marktöffnung, die viele Ziele der «Energiestrategie 2050» unterlaufen dürfte. Im Bericht zum Bundesbeschluss steht lapidar: «Der zweite Marktöffnungsschritt ist ein von der Energiestrategie 2050 getrenntes Geschäft.» Wie verhindert werden soll, dass die ökologischen Bemühungen durch den Wettbewerb ausgehebelt werden, darauf gibt der Bericht keine Antwort.
Übrigens wird gerne argumentiert, die Strompreise seien in Deutschland wegen der Energiefördergesetze so massiv gestiegen. Die deutschen Solar- und Windanlagen werden ja durch eine Stromabgabe finanziert, und diese Abgabe ist in den letzten Jahren sukzessive gestiegen. Das stimmt, ist aber nur die halbe Wahrheit. Der Journalist Kreutzfeldt zeigt in seinem Buch detailliert auf, wie mit diesem Argument Propaganda betrieben wird. Die Energieunternehmen machen den Ökostrom systematisch schlecht, um zu verschleiern, dass sie selber massiv Geld abschöpfen, das ihnen eigentlich nicht zusteht. «Nur ein Viertel des Strompreisanstiegs, den wir seit dem Jahr 2000 erlebt haben, ist tatsächlich durch die Energiewende verursacht. Der Rest der Zusatzkosten beruht zum Teil auf der allgemeinen Preissteigerung, zum Teil landet er als Subventionen bei der Industrie, als Extragewinn bei den Stromversorgern und als Steuerplus in der Staatskasse», schreibt Kreutzfeldt.
Wie wir unsere Stromversorgung organisieren, ist existenziell. Man kann sie verändern, sollte sie aber nicht leichtsinnig opfern. Eine breite Debatte tut not.
Die Strommarktöffnung
Erstmals angegangen wurde die Strommarktliberalisierung in den neunziger Jahren. Das Elektrizitätsmarktgesetz strebte eine vollständige Öffnung an, dagegen wurde aber 2002 erfolgreich das Referendum ergriffen.
2007 trat dann das Stromversorgungsgesetz in Kraft. Es erlaubt Grossbezügern, ihren Strom auf dem freien Markt einzukaufen. Es hielt auch fest, dass der Markt ab 2014 für alle geöffnet werden soll. Nach der Nuklearkatastrophe in Fukushima wurde dies sistiert.
Der jetzt vorliegende Bundesbeschluss will nun die Liberalisierung bis 2017 umsetzen. Dagegen kann das Referendum ergriffen werden.