Comeback des Radios : Die neuen Freiheiten im Äther

Nr. 43 –

Radiosendungen bleiben heute als Podcasts weltweit jederzeit verfügbar. Sendungsmacher wie der Ire Bernard Clarke zeigen dabei, dass auch experimentelle Radiokunst ein breites Publikum ansprechen kann.

Holocaustüberlebende erinnern sich im Radiostück «Tracing A-7063» an ihre traumatischen Erlebnisse im Konzentrationslager Auschwitz. Dazu dröhnen abstrakte Geräusche, klingen Synthesizerflächen und Ausschnitte aus einer 1941 in Nazideutschland produzierten Aufnahme von Mozarts «Requiem», in der sämtliche Hinweise auf eine jüdisch-christliche Tradition entfernt worden waren. «Sieg Heil»-Rufe, Stimmen und Geräusche sind durch Musiksoftware klanglich manipuliert.

Die Radiocollage produziert hat Bernard Clarke. Früher verkaufte er in der südirischen Stadt Limerick Schallplatten, ehe er 1999 durch Zufall beim staatlichen Radio RTÉ Lyric FM eine neue Anstellung fand. Heute wird sein aktuelles Wochenprogramm «Nowa» ebenso in Deutschland, Tschechien und den USA ausgestrahlt. Clarke verwebt in seiner Sendung zeitgenössische Musik (von Glenn Gould über Jimi Hendrix bis Ryoji Ikeda), Geschichte und politische Themen zu vielschichtigen Radiokunstereignissen. «Ich gehe immer von menschlichen Erfahrungen aus», erzählt er. «Diese Erfahrungen diktieren alles im Stück, die Form, die Stimmung, die Klangfarben. Ich möchte, dass die Hörerinnen und Hörer in diese Erfahrungen komplett eintauchen.»

«Dienst an der Sache»

Die Produktion seiner prämierten Radiokunststücke kann sich über Wochen und Monate ziehen. Als Basiskalkulation liesse sich sagen: pro Minute Radiokunstbeitrag eine Stunde Produktionsprozess. «Würde ich alles, was ich für diese Stücke benötige, in Rechnung stellen, würde man mich wohl umgehend feuern», sagt Clarke. «Aber das ist allgemein so. Radiokunst lebt schon lange von dem, was man gerne ‹Dienst an der Sache› nennt. Da ich bei RTÉ Lyric FM ausserdem für die Musikprogrammierung zuständig bin, ist ein Sechzehnstundentag keine Seltenheit.»

Man könnte Radiokunst als akustische Collage bezeichnen – oder als einen Erinnerungsgenerator aus Klängen, Geräuschen, Nachrichtenschnipseln und historischen Tondokumenten. Bereits der Cut-up-Autor William S. Burroughs und an ihn anschliessende Musikgruppen wie Throbbing Gristle, Cabaret Voltaire oder The Hafler Trio waren fasziniert vom experimentellen Charakter des Mediums Radio.

Der Klang einer Geschichte

Das Radio von heute allerdings unterscheidet sich vom Radio von gestern. Die Digitalisierung brachte schnellere, flexiblere, interaktivere und international vernetzte Produktionsbedingungen. Und Internetradio und Radioblogs (Podcasts, Feeds) schichteten die Verhältnisse zwischen Sender und Empfänger grundlegend um. Bernard Clarke ist froh, dass er Musik und Geräusche in Onlinearchiven mit wenigen Klicks findet und seine Sendungen auch auf Soundcloud längerfristig zugänglich machen kann. Da seine Radiofeatures so heute auf der ganzen Welt ein LiebhaberInnenpublikum erreichen, stört ihn selbst ein oft gehörter Spruch weniger als zuvor: «Das ist zu schwierig für den Hörer.» Produzieren kann Clarke dank Audiosoftware wie Logic Pro, Pure Data oder Kyma zu Hause und im Studio. «Ich will mir gar nicht vorstellen, wie etwa in den fünfziger Jahren Mehrspurbeiträge auf Revox-Tonbandmaschinen arrangiert wurden. Das muss der blanke Horror gewesen sein.»

Clarke ist kein Einzelfall. Eine immer grössere Zahl an ProduzentInnen ist heute daran, journalistische mit kompositorischen Zugängen zu vereinen. Radiostücke werden als Soundtracks für soziale, politische, geschichtliche und kulturelle Themen konzipiert. Grenzbereiche des Raums und der Kommunikation werden ausgelotet. Hörenswert sind etwa Sendungen von Meira Asher, GX Jupitter-Larsen, Heidi Grundmann, Jon Rose, Vicki Bennett, Danny McCarthy, Anna Friz, Karen Power oder Stefan Weber. Sie zeigen, dass Radio auch in Zeiten von Smartphone, MP3-Kompression und Marktzwang nicht zu einem Beiwerk, zu einer Hintergrundbeschallung, verkommen muss. Im Gegenteil. Das Radio feiert ein Comeback – ähnlich wie die Vinylschallplatte.

Das Radio bleibt auch weiterhin eines der niederschwelligsten Medien, um einem Anliegen eine Stimme zu geben, also Geschichten klanglich darzustellen. Clarke erklärt, was damit gemeint ist: «Vor einiger Zeit habe ich ein Stück über Alterswohnheime gestaltet. Als Inspiration diente Wim Wenders’ Film ‹Der Himmel über Berlin› von 1987. Ich machte Interviews mit den Heimbewohnerinnen und Heimbewohnern, kompilierte verschiedene Folkmusiken und machte in- und ausserhalb der Gebäude Field Recordings. Für ein anderes Stück fuhr ich nach Paris und nahm U-Bahn- und Strassengeräusche auf. Diese Aufnahmen, die Interviews sowie Auszüge aus Texten von Baudelaire wurden dann durch Granular-Audio-Plug-ins geschickt und so eng verbunden. Es hört sich an, als würde man mit der Pariser Metro fahren, und aus den Lautsprechern schallen nicht Stationsnamen, sondern Baudelaires Gedichte.»

Für sein Stück «Tracing A-7063» war es eine «grosse Herausforderung, nicht ins Sensationalisieren zu verfallen», meint Clarke. «Da Radio ja nur über die Ohren wahrgenommen wird, ist es per se abstrakter als Fernsehen. Ich denke, dass dadurch besonders bei problematischen Themen andere Emotions- und Erinnerungsleistungen zugänglich werden.»

RTÉ Lyric FM: www.rte.ie/lyricfm

Bernard Clarke: soundcloud.com/bernard-clarke