Deutschland: Es wird auch fürs Streikrecht gestreikt

Nr. 43 –

Bei den Streiks im deutschen Schienen- und Luftverkehr geht es auch um Löhne, Arbeitszeit und Pensionsansprüche. Aber nicht in erster Linie.

Mitte vergangener Woche ein eintägiger Streik der LokführerInnen, danach ein Ausstand bei der Lufthansa-Tochter Germanwings, am Wochenende dann eine zweitägige Arbeitsniederlegung bei der staatseigenen Deutschen Bahn (DB) und ab Montag ein erneuter Streik der Lufthansa-Piloten: Wer derzeit in Deutschland unterwegs ist, muss sich auf manches gefasst machen. Denn die Arbeitskämpfe sind noch lange nicht vorbei. Die Unternehmen mauern, und die beiden Gewerkschaften – die Vereinigung Cockpit (VC) und die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) – können es sich gar nicht leisten, jetzt einfach nachzugeben. Es steht zu viel auf dem Spiel für sie.

Dabei wäre ein Kompromiss in der Sache nicht nur möglich – er wird wohl auch kommen. Die VC wehrt sich vor allem dagegen, dass die Lufthansa die bisherige sogenannte Übergangsversorgung von Pilotinnen und Kopiloten einseitig abschaffen will; bisher konnten die Cockpitbesatzungen von Lufthansa, Lufthansa-Cargo und Germanwings ab dem Alter von 55 Jahren in Frührente gehen. Das Management, so die VC, wolle zudem die PilotInnen in mehrere Tarifgruppen aufteilen und schiebe bei Verhandlungen immer neue Forderungen nach.

Auch bei der Bahn ist der eigentliche Tarifkonflikt eher simpler Natur: Die GDL, die achtzig Prozent aller DB-LokführerInnen vertritt, verlangt fünf Prozent mehr Lohn und eine Arbeitszeitverkürzung von zwei Wochenstunden. Angesichts der Tatsache, dass ein Lokführer nach 25 Dienstjahren ein Grundgehalt von knapp über 3000 Euro brutto bekommt (netto sind das umgerechnet weniger als 2500 Franken) und damit weniger verdient als ein Facharbeiter, und angesichts der unzähligen Überstunden, die das DB-Fahrpersonal schiebt, sind das moderate Ziele.

Doch es geht um weitaus mehr. Was die Arbeitskonflikte so kompliziert macht, sind das autoritäre Gebaren der Unternehmensführungen – die Lufthansa wollte bereits viermal die bisherigen PilotInnenstreiks gerichtlich verbieten lassen –, aktuelle politische Auseinandersetzungen um die sogenannte Tarifeinheit und zwischengewerkschaftlicher Zwist. Denn GDL und VC sind Spartengewerkschaften, die nur einzelne, durchsetzungsfähige Berufsgruppen organisieren und damit das in Deutschland lange Zeit vorherrschende industriegewerkschaftliche Konzept unterlaufen: eine Branche, eine Gewerkschaft, ein Tarifvertrag – das war bis in die neunziger Jahre die Regel.

Das änderte sich mit der Zeit – auch aufgrund der strikt sozialpartnerschaftlichen Orientierung des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) und der Lohnzurückhaltung seiner meist SPD-nahen Mitgliedsorganisationen. Dass es überhaupt eine separate Interessenvertretung der FluglotsInnen gibt, ist beispielsweise der grossen Dienstleistungsgewerkschaft Verdi zuzuschreiben, die ohne Zwang schlechtere Entgeltbedingungen für die Beschäftigten der Flugsicherheit akzeptierte. Und ohne die geradezu devote Haltung der etatistischen Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG (früher Transnet) hätte die GDL nie so viele Mitglieder gewonnen. So war etwa der frühere Transnet-Vorsitzende Norbert Hansen, der 2008 die Seiten wechselte und als Arbeitsdirektor einen lukrativen Posten im DB-Vorstand übernahm, ein vehementer Befürworter der Bahnprivatisierung gewesen. Dass es dann doch nicht zum Börsengang der DB kam, ist übrigens nur zum Teil der Finanzmarktkrise ab 2008 zuzuschreiben: Auch die vielen GDL-Streiks 2007 zur Durchsetzung eines eigenen Arbeitsabkommens (und einer elfprozentigen Lohnerhöhung) hatten potenzielle InvestorInnen abgeschreckt. Zwischen der privatisierungskritischen GDL mit ihrem hemdsärmeligen Vorsitzenden Claus Weselsky und der EVG liegen Welten.

Kern des aktuellen Streits ist, dass nun die GDL auch die Interessen der ZugbegleiterInnen zu vertreten beansprucht; Bahnvorstand und EVG lehnen dies rundweg ab. Dabei ist die GDL-Forderung so abwegig nicht: Lokführerinnen und Kondukteure haben ähnliche Schichtpläne und leisten vergleichbar viel Überzeit. In einem Betrieb dürfe es nur einen Tarifvertrag geben, argumentieren hingegen Bahnmanagement und die EVG-Spitze – und den müsse die grösste Organisation aushandeln. Diese Haltung vertritt auch die Politik. Auf Drängen des DGB und der Unternehmensverbände will die Regierung unter Federführung von SPD-Arbeitsministerin Andrea Nahles demnächst ein Gesetz zur Tarifeinheit vorlegen, das den Alleinvertretungsanspruch der jeweils grössten Gewerkschaft vorsieht.

Damit aber wären den Spartengewerkschaften die Existenzgrundlage und sämtliche Kampfmittel entzogen: Laut derzeitiger Rechtsprechung darf in Deutschland nur zur Durchsetzung eines Tarifvertrags gestreikt werden. Das geplante Gesetz ist somit ein direkter Angriff auf die grundgesetzlich garantierte Koalitionsfreiheit und das Streikrecht. Dass es in vielen Branchen mehrere Tarifverträge gibt (mit besseren Bedingungen für schon länger Beschäftigte und mit deutlich schlechteren für NeueinsteigerInnen und Lohnabhängige in ausgegliederten Geschäftsbereichen), dass auch DB-Tochtergesellschaften separate Tarifverträge aushandeln – all das kümmert den DGB und die Regierung derzeit wenig. Und so wird sich wohl das Bundesverfassungsgericht mit dem geplanten gesetzlichen Zwang zur Tarifeinheit befassen müssen.