Kommentar zum Rechtsschwenk der europäischen Sozialdemokratie: Mit «Realitätssinn» in die Einbahnstrasse

Nr. 22 –

In Britannien mal wieder ein Rechtsschwenk bei Labour, in Deutschland ein Streikverbot dank SPD – auch anderswo marschiert die Sozialdemokratie tapfer nach rechts. Und in die Bedeutungslosigkeit.

Sie sind smart, haben in Oxford oder Cambridge studiert und eine Bilderbuchpolitkarriere hingelegt. Sie sind für weitere Kürzungen der Sozialausgaben, waren 2003 für den Irakkrieg, wollen die britische Bahn in privater Hand belassen, gehören also dem rechten Flügel an – nun kandidieren Liz Kendall, Andy Burnham, Yvette Cooper und Mary Creagh für den Vorsitz der Labour Party. Sie sind sich einig, dass Ed Miliband die Unterhauswahl verbockt hat. Er hätte keine Villensteuer vorschlagen dürfen (Creagh und Burnham), keine Erhöhung der Einkommenssteuer planen sollen (Kendall), sondern weitere Steuererleichterungen für Grossunternehmen zur Sprache bringen müssen (Cooper).

Die Partei müsse wieder die «aufstrebenden Schichten» ansprechen, sagen die vier AnhängerInnen von Tony Blair. Sie müsse den Mittelstand hofieren, «ökonomische Kompetenz» zeigen, die Staatsschulden konsequent abbauen, also noch mehr «Realitätssinn» beweisen.

Dabei war es ja «Realitätssinn», der Labour die Wahl vermasselt hat: Im Streben nach Anerkennung durch die Wirtschafts- und Finanzeliten hatte auch Miliband deren Behauptungen implizit übernommen, dass es nicht die Milliarden zur Bankenrettung waren, die die Staatsverschuldung in die Höhe getrieben hatten, sondern die lockere Ausgabenpolitik der früheren Labour-Regierungen. Doch darüber diskutiert die Partei nicht.

Und in noch einem ist sich das Quartett der Labour-KandidatInnen einig: Die Gewerkschaften, die die ehemalige Gewerkschaftspartei noch immer grossteils finanzieren, dürfen künftig keinerlei Rolle mehr spielen. Und die Belange der wachsenden Zahl von Armen, die Interessen der zunehmend ausgegrenzten Behinderten, die Sorgen der Beschäftigten im Service public, die Nöte der MinijobberInnen, die dringend anstehenden Umweltmassnahmen? Egal. Hauptsache, die Finanzwirtschaft floriert.

Wenn Labour – wie absehbar – diesen Kurs einschlägt, schafft sich die Partei als oppositionelle Kraft selber ab. Wer soll in fünf Jahren «Blue Labour» wählen (blau ist in Britannien die Farbe der Konservativen), wenn es doch das Original gibt? Gut möglich also, dass die Partei weiterhin an Zuspruch verliert – und dort landet, wo die SPD schon länger ist: bei 25 Prozent, Tendenz sinkend. Denn auch die SPD will – wie die französischen und italienischen SozialdemokratInnen – von Alternativen zum Austeritätskurs und Wegen hin zu einer humaneren, gerechteren Gesellschaft nichts wissen. Im Gegenteil: Sie attackiert sogar garantierte Grundrechte.

So plant derzeit der deutsche Justizminister Heiko Maas (SPD) eine allgemeine Speicherung personenbezogener Daten, obwohl das Bundesverfassungsgericht 2010 und der Europäische Gerichtshof 2014 vorherige Massnahmen zur Vorratsdatenspeicherung für illegal erklärt haben. Und so verabschiedete der Deutsche Bundestag am vergangenen Freitag ein Gesetz zur Tarifeinheit, das die linke Vorzeigefrau und heutige SPD-Arbeitsministerin Andrea Nahles ausarbeiten liess und das Gewerkschaften das Streikrecht nimmt. Künftig gilt in Betrieben nur noch jener Gesamtarbeitsvertrag, den die jeweils grösste Gewerkschaft unterzeichnet hat. Da aber laut aktueller Rechtsprechung Beschäftigte nur streiken dürfen, wenn es um Tarifverträge geht, können beispielsweise Mitglieder kleinerer Gewerkschaften keinen Arbeitskampf mehr führen.

Dieses Gesetz, gegen das mehrere Verfassungsklagen vorbereitet werden, ist die Hauptursache für den langen Konflikt bei der Deutschen Bahn (DB). Während der DB-Vorstand die Verhandlungen in Erwartung des neuen Gesetzes hinauszögerte, kämpften die LokführerInnen in neun Arbeitsniederlegungen um die Existenz ihrer Organisation – erst die Anerkennung ihres Verhandlungsmandats durch die Bahn ebnete den Weg zu Schlichtungsgesprächen, die derzeit beginnen.

Und was folgt jetzt? Macht sich die Regierungspartei SPD auch zur Handlangerin derer, die generell Streikverbote im öffentlichen Dienst fordern (weil sich die Postarbeiter und die Erzieherinnen nicht alles gefallen lassen und immer wieder in den Ausstand treten) oder zumindest eine Zwangsschlichtung und sogenannte Abkühlfristen verlangen? Zuzutrauen wäre ihr das.

Denn nur sie, die obrigkeitshörige, mandatsversessene und stets auf Anerkennung durch das Bürgertum bedachte Sozialdemokratie kann die «Modernisierungsmassnahmen» durchsetzen, die das Kapital und dessen Märkte erwarten.

Nur New Labour unter Tony Blair konnte unbeschadet die Privatisierungspolitik von Margaret Thatcher fortsetzen. Nur Rot-Grün unter Gerhard Schröder war es möglich, Deutschland wieder in einen Krieg zu führen, die Finanzmärkte zu deregulieren und einen riesigen Niedriglohnsektor aufzubauen. Nur Matteo Renzi gelang in Italien eine weitreichende Arbeitsmarktreform zulasten der Lohnabhängigen (siehe WOZ Nr. 20/2015 ).

Und François Hollande? Dem müsste Frankreichs Rechte (inklusive Marine Le Pen) aufgrund seiner zahlreichen sozialpolitischen Wendungen eigentlich fortlaufend die Hand schütteln.

Braucht man noch eine solche Sozialdemokratie? Nach Meinung vieler WählerInnen eher nicht.