Streiks in Deutschland: Entgleiste Gewerkschaften
Ein langer Ausstand der LokführerInnen, Streiks bei der Post und im Sozialbereich – im streikarmen Deutschland bewegt sich viel. Doch die Gewerkschaften sind gespalten wie selten zuvor.
Derzeit sind sich die meisten deutschen Medien und PolitikerInnen mal wieder ziemlich einig. Da ist von «Extremstreik» («Spiegel Online») die Rede, von «selbstgerechtem Auftreten» und «Borniertheit» («Bild»), von einem «lebensfremden» Ausstand «festangestellter», also privilegierter Beschäftigter («Süddeutsche Zeitung»), von «unerträglichen Machtspielen», «schwerem Schaden für die Wirtschaft», «Privatkrieg» (CDU-/CSU-/SPD-PolitikerInnen).
Die Empörung ist gross. Und das nur, weil die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) am Montag einen Streik begonnen hat, der bis Samstag dauern kann – also das tut, was eine Gewerkschaft tun sollte: konsequent für die Interessen ihrer Mitglieder und anderer Lohnabhängiger einzutreten.
Seit zehn Monaten verhandeln die GDL und der Vorstand der Deutschen Bahn AG (DB) um einen neuen Gesamtarbeitsvertrag, siebenmal legten die LokführerInnen die Arbeit nieder – zuletzt vor zwei Wochen, als drei Viertel aller Personenzüge zwei Tage lang ausfielen. Warum zieht sich dieser Konflikt so lange hin? Weil der DB-Vorstand die «Verhandlungen bestreikt» und Zusagen immer wieder zurücknimmt, wie der GDL-Vorsitzende Claus Weselsky am Montag klagte? Oder weil es sich bei «Deutschlands dümmster Gewerkschaft» (so der «Spiegel» vor einiger Zeit) um einen besonders «verantwortungslosen» Haufen handelt?
Die Politik im Hintergrund
In der Sache sind die Differenzen gross, aber nicht unüberwindbar. Die GDL fordert fünf Prozent mehr Lohn, eine tarifliche Begrenzung der zu leistenden Überstunden – das Lokpersonal schiebt drei Millionen Überstunden vor sich her – und eine Arbeitszeitverkürzung von 39 auf 38 Wochenstunden. Die Deutsche Bahn AG offeriert 3,2 Prozent mehr Lohn und schlägt eine Schlichtung vor.
Weiter auseinander liegen die Tarifparteien jedoch in der Frage, für wen ein künftiges Abkommen gelten soll: Für den Bahnvorstand ist die GDL nur für LokführerInnen zuständig; die Gewerkschaft hingegen sieht sich als Interessenvertretung des gesamten Zugpersonals. Und dazu gehören ihrer Meinung nach auch die Zugbegleiterinnen, die Beschäftigten der Bordbistros, die Lokrangierführer und die AusbilderInnen.
Für diese Berufsgruppen aber hat – und das kompliziert den Konflikt – die DB Verträge mit der grossen Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) abgeschlossen, die sie beibehalten will (siehe WOZ Nr. 43/2014 ). Dabei hat die EVG, vormals Transnet, die Kleingewerkschaft GDL überhaupt erst stark gemacht – beispielsweise 2007, als Transnet einen Tarifvertrag akzeptierte, der es der Bahn erlaubte, LokführerInnen zu Stundenlöhnen von 7,50 Euro einzustellen. Erst die erfolgreichen GDL-Streiks 2007 und 2011 brachten die EVG dazu, ihre eigene Basis wieder wahr- und halbwegs ernst zu nehmen.
Dazu kommt ein neues Gesetz zur «Tarifeinheit», das die Bundesregierung noch im Juni durchs Parlament peitschen will. Es sieht, angeregt von Unternehmensverbänden und dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), vor, dass in Betrieben nur noch die jeweils mitgliederstärkste Gewerkschaft einen Tarifvertrag abschliessen kann. Das wäre bei der Bahn die EVG. Gut möglich also, dass der DB-Vorstand mit seiner Verzögerungstaktik auf Zeit spielt.
Das von der SPD vorangetriebene Tarifeinheitsgesetz richtet sich gegen die relativ neuen, kleinen, aber durchsetzungsstarken Berufsgewerkschaften der LokführerInnen, der PilotInnen (Vereinigung Cockpit), der Beschäftigten der Flugsicherung und der SpitalärztInnen (Marburger Bund). Sollte es verabschiedet werden, hätten diese kein Verhandlungsmandat mehr – und damit auch kein Streikrecht. Gegen diese einschneidende Massnahme laufen viele GewerkschafterInnen Sturm. Aber nicht alle. Der Vorstand der mächtigen IG Metall (knapp 2,3 Millionen Mitglieder) begrüsst die Schwächung jedweder Konkurrenz in ihrem Organisationsbereich, die Chemie- und Energie-Gewerkschaft IG BCE ist ebenfalls für ein Streikverbot, genau wie die EVG.
Geplantes Streikverbot
Eindeutig dagegen ausgesprochen haben sich die Organisationen des Bildungspersonals (GEW), der Gastronomie- und LebensmittelarbeiterInnen (NGG) und die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (Verdi) mit ihren zwei Millionen Mitgliedern. Sie sehen in der gesetzlich erzwungenen Tarifeinheit einen Verstoss gegen das garantierte Grundrecht auf Koalitionsfreiheit; Verdi hat bereits eine Verfassungsklage angekündigt.
Das lange Zeit hochgehaltene Prinzip «ein Betrieb, eine Gewerkschaft, ein Tarifvertrag» sei von Unternehmerseite längst ausgehöhlt worden, argumentieren GewerkschafterInnen (darunter auch viele IG-Metall-Mitglieder). In der Tat: Seit Jahren gliedern Konzerne Unternehmensteile aus, um Mitbestimmungsrechte zu beschneiden, und heuern in grossem Stil Leiharbeitskräfte zu schlechteren Bedingungen an. Das ist auch bei der Bahn so, die mittlerweile aus rund tausend betrieblichen Einheiten und Tochtergesellschaften besteht, die teilweise Lohndumping betreiben.
Auch der weltweit grösste Logistikkonzern, die 1995 privatisierte Deutsche Post, kennt keine Tarifeinheit mehr. Dort kommt es derzeit immer wieder zu Warnstreiks. Ende vergangener Woche traten 10 000 Postbeschäftigte in den Ausstand, weil das Unternehmen entgegen einer Abmachung mit Verdi weiterhin Postdienste an Dritte vergibt. Für den Vertrag zum Schutz vor Fremdvergabe hatten die Angestellten auf Ferientage verzichtet. Nun fordern sie eine Arbeitszeitverkürzung um eine Wochenstunde.
Industrie gegen Dienstleistungen
Im Clinch liegen die Gewerkschaften nicht nur bei der Tarifeinheit. Auch bei den geplanten Freihandelsabkommen TTIP und Ceta (siehe WOZ Nr. 15/2015 ) unterscheiden sich die Positionen. Verdi und die GEW fordern ein sofortiges Ende der Geheimgespräche, weil dabei auch erkämpfte Sozialstandards und Arbeitsrechte zur Disposition stehen; die Vorstände von IG Metall und IG BCE orientieren sich dagegen eher an den Interessen der Automobil- und Chemiekonzerne.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund lehnt den LokführerInnenstreik ab – vielleicht auch deswegen, weil ihm die GDL einen Spiegel vorhält und zeigt, dass erst Kampfbereitschaft eine Gewerkschaft auszeichnet. Aber was tut er, wenn voraussichtlich am Freitag viele der 240 000 unterbezahlten Erzieherinnen in Kindertagesstätten, kommunal beschäftigten Sozialarbeiter und HeilpädagogInnen die Arbeit niederlegen? Für sie fordert Verdi eine Eingruppierung in höhere Entgeltstufen und damit durchschnittlich zehn Prozent mehr Lohn.
Ihr Streik dürfte mehr Menschen treffen als der Ausstand der LokführerInnen. Er wird medial nur nicht so hochgekocht, weil er dem kapitalistischen Verwertungsprozess weniger schadet als stehende Güterzüge – und hauptsächlich Familien trifft. Leiert dann der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann denselben Spruch daher wie bei einem TV-Interview am Montagabend? «Dieser Streik schadet dem Image der Gewerkschaften», sagte er. Ausgeschlossen ist das nicht.