Pauschalsteuer: Zutritt verboten
Bei der Abstimmung über die Pauschalsteuer Ende November 2014 geht es um oben und unten in der Schweiz, aber auch um innen und aussen. Eine Reise durch das Land der Reichen mit dem AL-Politiker Niklaus Scherr, dem geistigen Vater der Initiative.

Es sind nicht die sauber frisierten Rasen und Hecken, nicht die schweren Eisentore, die den Blick versperren, nicht die elektronischen Augen, die jede Regung beobachten, nicht die Scheinwerfer, die nachts ungebetene Gäste verscheuchen, und auch nicht die Sicherheitsmänner, die einen rüden Ton anschlagen. Das Unsichtbare macht den Unterschied: Hier gibt es Klingeln, aber keine Namensschilder, es gibt Häuser, aber keine Hausnummern, es gibt Anwesen, aber keine BewohnerInnen, es gibt Strassen, aber keine Trottoirs.
Niemand kommt zu Fuss, niemand mit den öffentlichen Verkehrsmitteln. Es kommt überhaupt nur hierher, wer eingeladen ist oder vorgefahren wird. Denn das ist eine eigene Welt mit eigenen Regeln, eine Gated Community. Es ist die Welt einer Elite, die Welt der Reichen, die Welt der Pauschalbesteuerten.
Warum zahlt ein Schweizer Millionär mehr Steuern als ein ausländischer? Weshalb kann der französische Tennisstar einen Steuerdeal abschliessen, nicht aber der Bauarbeiter aus dem Balkan? Warum profitiert der Oligarch Michail Chodorkowski in Rapperswil-Jona von einem Steuerprivileg, die ukrainische Femen-Aktivistin Anna Hutsol aber wird vom gleichen Ort ausgeschafft?
Die Geschichte der Pauschalbesteuerung handelt von der Schweiz und ihrem Verständnis der Demokratie, von Gerechtigkeit und Migration, von Heuchelei und Fremdenfeindlichkeit. An diesem regnerischen Montagmorgen im Oktober handelt die Geschichte aber auch von einem siebzigjährigen Mann namens Niklaus Scherr, den alle nur «Niggi» nennen, der in der Hand einen Regenschirm hält und in seinem Rucksack einen Stapel Dossiers schleppt: Timtschenko, Vekselberg, Engelhorn, Ecclestone – flüchtig beschriftete blaue Mäppchen, gefüllt mit Zeitungsartikeln und Satellitenbildern. Er hätte sie nicht erst mitbringen müssen. Was dort steht, weiss er im Schlaf. Nur hin und wieder muss er eine Zahl oder eine Adresse überprüfen, ansonsten prasseln die Fakten und Anekdoten herunter wie der Regen an diesem düsteren Herbsttag.
Rund 5600 Personen profitieren in der Schweiz von der Pauschalsteuer. Die meisten leben in der Romandie, in den Bergkantonen, in der Innerschweiz, konzentriert in Tourismusgebieten und an den Hängen am Genfersee. Sie sind AusländerInnen, die zwar Steuern zahlen, aber nicht ihrem effektiven Einkommen und Vermögen entsprechend, wie das für alle anderen in der Verfassung vorgesehen ist, sondern nach einem eigens für sie ausgerichteten System: Weil sie (zumindest theoretisch) nicht in der Schweiz arbeiten, zahlen sie einen Pauschalbetrag, berechnet nach ihren Lebenshaltungskosten (vgl. «Bloss 0,5 Prozent» im Anschluss an diesen Text).
Niggi Scherr hört es zwar nicht gerne, aber er ist so etwas wie der geistige Vater der Initiative «Schluss mit den Steuerprivilegien für Millionäre», die die Abschaffung dieser Pauschalsteuer verlangt und über die die Stimmbevölkerung am 30. November entscheidet. Es ist halb neun Uhr, und Niggi Scherr steigt am Zürcher Hauptbahnhof in den Intercity nach Genf. Dort geht es später mit dem Auto weiter ins angrenzende Cologny, ein Nest der Pauschalsteuer, danach dem Genfersee entlang bis nach Montreux und schliesslich hoch in die Berge, ins Chaletparadies Gstaad, wo rund 180 reiche AusländerInnen pauschalbesteuert leben (von insgesamt 211 im Kanton Bern). Ein Ausflug in die Welt der Pauschalsteuer, ein «Bonzebsüechli», wie Scherr es nennt, eine Tour des riches.
Aber jetzt erst mal: drei Stunden Zugfahrt. Zeit, um über die Entstehung und den bisherigen Erfolg der Initiative zu sprechen.
«Hau doch ab nach Moskau!»
Acht Jahre ist es her, seit das Projekt in Zürich seinen Anfang nahm. «2006 diskutierten wir in einer Arbeitsgruppe Themen und Ideen, mit denen wir als Linke in die Offensive gehen könnten», erzählt Scherr. Die SVP war damals auf dem Vormarsch, die Linke hilflos und vor allem damit beschäftigt, die rechten Angriffe in Migrationsfragen zu bekämpfen. Die Alternative Liste Zürich überlegte sich, was sie dem entgegensetzen, wie sie einen Nerv im Umfeld der SVP treffen könnte. Dabei kam man auf die Pauschalsteuer. «Unsere Leute wussten teilweise gar nicht, was das ist. Es gab damals ja nur 40 Pauschalbesteuerte im Kanton Zürich. Bis zur Abstimmung 2009 waren es dann 200.» Die Unterschriftensammlung verlief harzig, die Fragen waren komplex, die Leute auf der Strasse kaum darüber informiert, zumal es damals so gut wie keine öffentliche Diskussion darüber gab.
Die AL war trotzdem davon überzeugt, dass die Initiative eine gute Idee war, denn sie hatte das Potenzial, die SVP-Wählerschaft zu spalten. Sie brachte das rechtspopulistische Establishment in Erklärungsnot: Es musste seinen AnhängerInnen erklären, warum die AusländerInnen, auf denen man sonst so gerne rumhackte und die man partout weghaben wollte, in Steuerfragen bevorzugt behandelt werden sollten.
Im Abstimmungskampf hiess es, im bürgerlichen Kanton Zürich habe die städtische Linksaussenpartei keine Chance. Aber es kam anders. Massgeblich war neben Finanzkrise und einer aufgebrachten Diskussion über Boni, dass die Pauschalsteuer ein unfreundliches Gesicht erhielt: das des russischen Oligarchen Viktor Vekselberg. «Vekselberg wurde unser bester Verbündeter», sagt Scherr lächelnd. «Er war idealtypisch: ein russischer Oligarch, ein Raider der Schweizer Industrie, pauschalbesteuert – er verkörperte die dreiste Form des Missbrauchs in allen Facetten.»
Scherr erinnert sich gut an eine Episode, die sich zwar erst nach der Abstimmung in Zürich ereignete, die aber beispielhaft für die damalige Stimmung steht. Scherr besuchte im April 2009 als Besitzer von zehn Sulzer-Aktien die Generalversammlung des Industriekonzerns in der Eulachhalle in Winterthur. Es ging um die Übernahme des Unternehmens durch Vekselberg. 1300 AktionärInnen im Saal, alle mit einem elektronischen Abstimmungsgerät in der Hand, und vorne in der ersten Reihe die Anwälte von Vekselberg. «Du drückst und drückst, aber du hast nur zehn Stimmen. Und dann kommt Vekselberg, Knopfdruck, und auf der Leinwand leuchten auf einen Schlag zehn Millionen Stimmen auf. Wäre es eine Gemeindeversammlung gewesen, eine demokratische Veranstaltung, dann wäre das Stimmenverhältnis wohl 99 zu 1 ausgefallen – gegen Vekselberg. Aber so?» Hinter Scherr sass ein Pensionär, aufgebracht über die unfreundliche Übernahme, vorne auf der Bühne vertrat ein Schnösel die Position von Vekselberg, als der Saal unruhig wurde. Pfiffe, Buhrufe. Der Pensionär hinter Scherr stand auf und rief in den Saal: «Hau doch ab nach Moskau!» – Scherr, der seine Studienzeit als Zimmernachbar des Journalisten und Historikers Niklaus Meienberg im stürmischen Mai 1968 in Paris verbracht hatte, musste innerlich lachen: «Was für eine Ironie! Wie oft habe ich diesen Spruch in meinem Leben selber hören müssen?»
Für Scherr ist das ein Moment mit Symbolkraft, einer, der die Sprengkraft der Initiative zeigt, die bis tief ins bürgerliche Lager auf Sympathien stösst. Der Kanton Zürich schaffte die Pauschalsteuer 2009 überraschend ab. Es folgten die Kantone Appenzell-Ausserrhoden, Schaffhausen, Basel-Landschaft, Basel-Stadt. Und nun also die nationale Ebene, die endgültige Streichung eines 150 Jahre alten Steuerprivilegs.
Die Pauschalsteuer war 1862 erstmals im Kanton Waadt eingeführt worden. Bis heute leben hier die meisten Pauschalbesteuerten, insgesamt sind es 1396. Der Gedanke damals war, vermögende AusländerInnen, die ihren Lebensabend in der Schweiz verbringen wollten, auf eine spezielle Art zur Kasse zu bitten. Da sie in der Regel nicht mehr arbeiteten, versteuerten sie anstelle von Einkommen und Vermögen einen Pauschalbetrag, der sich nach ihrem Lebensaufwand richtete. Bis heute beläuft sich der Betrag auf das Fünf- bis Siebenfache der Wohnkosten. Doch in den letzten Jahren entwickelte sich die Pauschalsteuer zunehmend zu einem weiteren Steuertrick der globalisierten Finanzelite – aus der Lex Chaplin (nach Charlie Chaplin) wurde die Lex Vekselberg. Galt die Pauschalsteuer 1994 für 2730 Personen, waren es 2005 bereits 3772. Heute sind es über 5600.
Niggi Scherr sieht aus dem Fenster, als der Zug den Tunnel verlässt. Die Sonne scheint kurz auf, silberne Fäden ziehen sich durch die Reben des Waadtländer Lavaux. «Scheinerwerbslose», sagt Scherr dann – reiche AusländerInnen, die vorgeblich nicht in der Schweiz arbeiten, in Wahrheit aber von hier aus globale Firmenimperien steuern. Zu ihnen zählt Scherr Viktor Vekselberg oder Peter Pühringer, den «König von Vitznau» (siehe WOZ Nr. 34/14 ), aber auch Gennadi Timtschenko, Gründer und bis vor kurzem Besitzer der Ölhandelsfirma Gunvor, wohnhaft in Genf-Cologny, Bekannter des russischen Präsidenten Wladimir Putin, geschätztes Vermögen: rund 14 Milliarden Franken.
Timtschenko kam, um zu arbeiten
An der Rampe de Cologny, ganz in der Nähe des Genfer Jet d’Eau, warten eine blinkende Überwachungskamera und ein schweres Eisentor, das sich wundersam öffnet, als Scherr sich nähert. Keine freundliche Begrüssung, sondern ein bestimmtes «Was habt ihr hier zu suchen?». Der Wachmann ist kurz angebunden, «propriété privée», mehr gibt es nicht zu sagen, und dann schliesst er das Tor wieder. Die Villa sieht man nur auf dem Satellitenbild, das Scherr mitgebracht hat, von der Strasse aus ist jedenfalls nichts auszumachen. Achtzehn Millionen Franken soll Gennadi Timtschenko für das Anwesen gezahlt haben, ein Klacks, seiner Tochter schenkte er zum Geburtstag eine Villa für dreissig Millionen. In unmittelbarer Nachbarschaft: Geschäftspartner Torbjörn Törnqvist auf der gegenüberliegenden Strassenseite, dem er 44 Prozent seiner Anteile am Ölkonzern Gunvor verkauft hat und der jetzt 87 Prozent kontrolliert. Nebenan eine Villa im Besitz des Ölstaats Katar, wo Limousinen mit Diplomatennummern ein- und ausfahren.
Timtschenko gründete Gunvor im Jahr 1997. Das Unternehmen stieg schnell zum wichtigsten Vermittler russischen Erdöls auf. Heute ist es der drittgrösste Ölhändler weltweit mit einem Umsatz von 91 Milliarden US-Dollar. Der Konzern beschäftigt 500 Angestellte, 200 davon an bester Adresse in Genf, an der Rue du Rhône, wenige Minuten von Timtschenkos Villa entfernt.
Der 61-jährige russisch-finnische Doppelbürger zog Anfang der Nullerjahre nach Genf, weil er in Finnland zu hohe Steuern zahlen musste. Auf den Kniff mit der Pauschalsteuer musste er aber nicht selbst kommen. Dafür gibt es in der Schweiz, und in Genf besonders, eine ganze Reihe von Steueranwälten und Treuhänderinnen. Im Fall von Timtschenko hiess dieser Dominique Warluzel, in der Westschweiz bekannt als Autor und Fernsehkommentator in Steuerfragen, «Le Monde» bezeichnete ihn einst als «Le Suisse, qui délocalise les stars». 2011 hat sich Warluzel selber delokalisiert – auf die Bahamas. 2013 erlitt er einen Schlaganfall und kam wieder zurück in die Schweiz. «Wäre er letztes Jahr hier gewesen», sagt Niggi Scherr, als wir Genf in Richtung Autobahn verlassen, «dann hätte er Timtschenko abgeraten, der NZZ ein Interview zu geben.»
Es war einer der seltenen Auftritte des diskreten Timtschenko – und was er von sich gab, hätte eigentlich die Steuerbehörden aufhorchen lassen müssen. Im Gespräch mit der NZZ sagte er, auf die Pauschalsteuer angesprochen, daran gebe es nichts auszusetzen: «Ich kam in die Schweiz und nach Genf, um ein Unternehmen zu gründen und zu arbeiten. Gunvor beschäftigt inzwischen 200 Personen in Genf. Ich habe zudem ein zweites Unternehmen hier in der Stadt.» Scherr liest die Antwort Timtschenkos mit Erheiterung vor und sagt dann: «Als Pauschalbesteuerter dürfte er nicht erwerbstätig sein. Aber das hat Timtschenko wohl gar nicht gewusst.»
Da die Pauschalbesteuerung für erwerbslose RentnerInnen gedacht war, führt ihre heutige Anwendung immer wieder zu skurrilen Situationen: Viktor Vekselberg beispielsweise verschachtelt seine Arbeitstätigkeit in einer Reihe von Firmen und Unterfirmen, die von Zypern bis auf die Karibikinseln reichen. Peter Pühringer wiederum ist in der Innerschweiz unverhohlen ein eigentlicher Hotel- und Immobilienunternehmer – allein an seinem Wohnort Vitznau betreibt er mehrere Firmen, unter anderem eine Vermögensberatung. Und Jo-Wilfried Tsonga, der französische Tennisprofi, durfte 2009 trotz abgeschlossenem Vertrag nicht an den Swiss Indoors in Basel teilnehmen, weil er pauschalbesteuert im Kanton Waadt lebt.
Je konservativer, desto besser
Wir lassen Genf hinter uns, fahren auf der Autobahn entlang der Westschweizer Goldküste durchs Waadtland, vorbei an Jo-Wilfried Tsongas Wohnort La Rippe, vorbei an Michael Schumachers Gland, vorbei an 1396 pauschalbesteuerten AusländerInnen. Hier in der Westschweiz werde die Abstimmung entschieden, ist Scherr überzeugt. Man könnte meinen, dass das ein gutes Zeichen ist, schauen Deutschschweizer Linke doch jeweils nach verlorenen Abstimmungen wehmütig in die Romandie. Allerdings scheiterte 2010 in der Waadt ein linkes Bündnis schon bei der Unterschriftensammlung zur kantonalen Abschaffung der Pauschalsteuer. Es fehlten rund 200 Unterschriften. Zudem fürchtet Scherr, dass die politische Debatte komplett von rechten LobbyistInnen dominiert werden könnte. Aber Scherr sagt auch: «Je konservativer der Kanton, desto grösser sind unsere Chancen. Zürich, Schaffhausen, Appenzell-Ausserrhoden – das waren keine linken Kantone. Auch in St. Gallen wurde die Initiative angenommen, allerdings hatte der Gegenvorschlag mehr Stimmen.» Auch im Thurgau fiel die Abstimmung 2011 knapp aus, in Bern hingegen scheiterte sie sehr eindeutig, weil sie an eine Steuererhöhung gekoppelt war.
Es ist bemerkenswert: Da haben SozialdemokratInnen und Gewerkschaften in den letzten Jahren eine Reihe sozialpolitischer Initiativen lanciert – 1:12, Mindestlohn, öffentliche Krankenkasse, Erbschaftssteuer –, und das einzige Anliegen, das echte Aussicht auf Erfolg hat, ist die Initiative der kleinen, beinahe mittellosen Linkspartei AL.
Die Erklärung dafür liegt auf der Hand: Bei der Pauschalsteuer überlagern sich zwei Konfliktlinien. Es geht nicht nur um unten und oben, sondern auch um innen und aussen, um Arbeiterinnen und Millionäre, um Schweizerinnen und Ausländer. Spielt die AL also mit der latenten Fremdenfeindlichkeit der Schweiz? «Die Frage ist: Wer bestimmt den Diskurs, die Linke oder die SVP? Ich habe kein Problem damit, Privilegien anzugreifen – selbst wenn sie Ausländer betreffen. Problematisch fände ich es, wenn unsere Initiative Wasser auf die Mühlen der SVP wäre. Aber sie tut ja gerade das Gegenteil.» Ohnehin sieht er in der Frage linker Allianzen sehr viel Scheinheiligkeit. «Es ist offenbar legitim, mit aufgeklärten Bürgerlichen zusammenzuarbeiten, mit Economiesuisse gemeinsame Kampagnen zu führen, solange sie sich gegen Blocher richten», sagt Scherr. «Aber wenn man mit dem Fussvolk von Blocher geht, mit den einfachen Leuten, dann soll das ein Problem sein? Nein, dieser unterschwellige Political-Correctness-Diskurs ist mir zuwider. Bei unserer Initiative geht es um grundlegende Fragen: Leben wir in einer Demokratie? Oder leben wir in einem Staat, der sich monacoisiert und neofeudale Züge annimmt?»
Der demokratische Kapitalist
Nächster Halt Vaux-sur-Morges, ein kleines Dorf, das fast keines ist: eine Ansammlung von Bauernhäusern, 122 EinwohnerInnen im «centre-ville», noch ein paar Dutzend verstreut zwischen menschenleeren Feldern. Neben der Dorfkirche steht ein umgebautes Bauernhaus, ein Gärtner grüsst und fragt, ob wir Hilfe brauchten. Es ist die erste, die einzige, freundliche Begrüssung an diesem Tag. «Das wollte ich zeigen», sagt Scherr schmunzelnd, «hier wohnt der demokratische Kapitalismus.»
Auf der Klingel des Bauernhauses steht tatsächlich ein Name: André Hoffmann, Erbe des Pharmaimperiums Hoffmann-La Roche. Der 55-jährige Basler ist nicht pauschalbesteuert, aber dank ihm zählt Vaux-sur-Morges zu einer der reichsten Gemeinden der Schweiz. Der Zuzug Hoffmanns brachte eine Senkung des Steuerfusses auf ein Minimum mit sich. Rund fünf Millionen Franken nimmt die Gemeinde heute an Steuern ein, etwa neunzig Prozent stammen vom Pharmamilliardär. Der Grossteil bleibt aber nicht in der Gemeinde, sondern fliesst direkt in den Finanzausgleich. Wenn die Alternative Liste die Pauschalsteuer abschaffen möchte, so geht es ihr nicht darum, die reichen Millionäre zu vertreiben – sie sollen bloss ordentlich Steuern zahlen.
Die letzte Etappe führt ins Berner Oberland nach Gstaad. Keine andere Gemeinde hat eine höhere Dichte an pauschalbesteuerten AusländerInnen als Saanen. Hier leben Jean-Claude Mimran, Zuckerindustrieller aus Frankreich, der griechische Reeder Peter Livanos oder der Deutsche Curt Engelhorn, der Mitte der neunziger Jahre den Pharmakonzern Boehringer Mannheim für elf Milliarden US-Dollar an Roche verkaufte und spottete, der deutsche Fiskus bekomme davon keinen Pfennig zu sehen. Und natürlich ist da Bernie Ecclestone, die britische Formel-1-Legende, mit einem Vermögen von zwei bis drei Milliarden Franken.
Gstaad ist die Hauptstadt der Pauschalsteuer. Für keine andere Gemeinde steht am 30. November so viel auf dem Spiel wie für Saanen. Man fürchtet, mit der Abschaffung der Pauschalsteuer würden die ausländischen MillionärInnen abziehen und ein grosses Loch in die Staats- und Gemeindekasse reissen. Ob das tatsächlich eintrifft, ist Spekulation. Ausserdem stammten 2012 gerade einmal 4 von 47 Millionen Franken Steuereinnahmen von Pauschalbesteuerten. In Zürich zog zwar nach Abschaffung der Pauschalsteuer etwa die Hälfte der Reichen weg, zwei Drittel davon in andere Kantone mit Steuerprivilegien. Diese Einnahmen fielen zwar weg, die Verbliebenen und die neu Zugezogenen machten diesen Verlust jedoch wieder wett.
Dass man der Sache in Gstaad dennoch nicht richtig traut, sah man vor zwei Jahren, als eine kantonale Vorlage ebenfalls die Abschaffung der Pauschalbesteuerung vorsah. Eine geplante Demo der Unia wurde von der Gemeinde derart eingeschränkt, dass die Gewerkschaft kurzerhand darauf verzichtete. Stattdessen rief die Lobbyorganisation der lokalen Baubranche zu einer Gegenkundgebung auf, die Gewerkschaft erhielt Drohungen und wurde beschuldigt, Arbeitsplätze zu vernichten.
Vielleicht bot der gehässige Abstimmungskampf in Gstaad einen Vorgeschmack auf das, was die Lobby der reichen Eliten in den nächsten Wochen noch aus dem Hut zaubert. Aus Pontresina ging kürzlich eine demokratisch fragwürdige Meldung ein: Der Gemeindevorstand unterstützt dort die Neinkampagne des Gewerbeverbands mit einem Beitrag von 5000 Franken – Steuergeld für die Erhaltung eines Steuerprivilegs.
Niggi Scherr ist jedenfalls auf alles gefasst. Aber er macht sich keine Illusionen. Er weiss, selbst wenn die Initiative durchkommt, wird ein Heer von Steueranwälten in den Gesetzesbüchern neue Lücken suchen, um neue Privilegien für die Reichsten zu schaffen. Aber er lässt sich nicht beirren. «Ich komme aus einer Generation der Linken, die vom Guerillakrieg gelernt hat: Wenn du immer verlierst, giltst du als zahnloser Tiger. Deshalb musst du den Gegner an der schwächsten Stelle angreifen. Wenn du diesen Punkt triffst, stärkt dich das auch auf anderen Feldern. Darum geht es bei dieser Initiative. Sie wird nicht alles verändern. Aber sie ist ein Plebiszit über ein kleines Stück Gerechtigkeit.»


Dann steht Niggi Scherr am Ende der Oberbortstrasse, vor dem verschlossenen Tor zu Bernie Ecclestones Villa. Auch hier ist an diesem Tag niemand zu Hause, kein Gärtner, kein Wachmann, kein Ecclestone. Dafür erklärt eine Tafel neben Kamera und Tor, was ohnehin unübersehbar ist: «Privat – Zutritt verboten». Und so endet der Tag, wie er begonnen hat: Wir warten vor einer Klingel ohne Namen, einem Haus ohne Nummer, einer Strasse ohne Trottoir.
Die Initiative auf einen Blick: Bloss 0,5 Prozent
Am 30. November entscheidet die Schweizer Stimmbevölkerung, ob ausländische MillionärInnen weiterhin bevorzugt besteuert werden sollen. Die kleine Linkspartei Alternative Liste will mit der Initiative «Schluss mit Steuerprivilegien für Millionäre» die sogenannte Pauschalsteuer abschaffen. Bei der Pauschalbesteuerung werden AusländerInnen, die in der Schweiz wohnhaft sind, aber hier nicht arbeiten, nach dem Lebensaufwand besteuert statt nach Einkommen und Vermögen. Der Lebensaufwand wird nach den Wohnkosten berechnet und beträgt in der Regel das Fünf- bis Siebenfache der Miete, seit 2012 aber mindestens 400 000 Franken.
Die volkswirtschaftliche Bedeutung der Pauschalsteuer ist umstritten. 2012 betrug der Steuerertrag durch Pauschalbesteuerte knapp 700 Millionen Franken, durchschnittlich knapp 125 000 Franken pro besteuerte Person. An den gesamten Steuereinnahmen des Bunds macht die Pauschalsteuer lediglich 0,5 Prozent aus.
Die Pauschalbesteuerung ist auch deshalb umstritten, weil sie das verfassungsmässige Gebot auf Steuergerechtigkeit zumindest ritzt. Selbst Finanzministerin Eveline Widmer-Schlumpf musste kürzlich zugeben, dass die Pauschalbesteuerung vom Prinzip der Besteuerung nach wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit abweicht. Das lasse sich aber mit dem öffentlichen Interesse rechtfertigen und sei überdies verhältnismässig.
In verschiedenen Kantonen wurde die Pauschalsteuer in den letzten Jahren durch Volksinitiativen oder Parlamentsbeschlüsse abgeschafft, so in Zürich (2009), Schaffhausen (2011), Appenzell-Ausserrhoden (2012), Basel-Landschaft (2012) und Basel-Stadt (2012).
Carlos Hanimann