1989 und die Schweiz: Die Geschichte von den Fischen

Nr. 45 –

Am Radio sprachen sie plötzlich von Fischen. Offenbar waren sie in grossen Massen aufgetaucht, und man könne sie wohl demnächst einsehen. Fische einsehen? Ab diesem Punkt verstand ich die Nachricht nicht mehr, als Schulkind Ende 1989. Aber je länger ich die Geschichte seither miterlebt habe, desto stärker bin ich überzeugt, dass wir die Sache mit den Fichen, mit diesen Karteikarten zur Überwachung, verstehen sollten.

Vor 25 Jahren, am 9. November 1989, fiel in Berlin die Mauer, und damit verschwand auch die bipolare Weltordnung zwischen West und Ost, zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Nur zwei Wochen später implodierte die herrschende Ordnung auch in der Schweiz, als am 24. November eine Untersuchungskommission die Erfassung von Hunderttausenden von Linken und – das war schon damals nicht anders – von noch mehr AusländerInnen als potenzielle StaatsfeindInnen publik machte. Und zwei Tage später stimmte mehr als ein Drittel der Stimmberechtigten für die Abschaffung der Armee.

Die Entdeckung der Fichen bedeutete den Umschlag hin zur politischen Gegenwart der Schweiz. Paradox dabei war, dass in den folgenden Jahren die Linke und die Rechte ihre Rollen vertauschten. Auch wenn die politischen Machtverhältnisse gleich geblieben sind, nämlich mehrheitlich rechts, fühlten sich die vermeintlichen StaatsfeindInnen künftig für den Staat verantwortlich. Gerade die Erfahrung der Überwachung hatte sie dazu gebracht, die Grundrechte der Verfassung umso vehementer zu verteidigen. Und es waren die bürgerlichen einstigen StaatsschützerInnen, die geflissentlich nichts mehr mit dem Staat zu tun haben wollten – sofern er nicht gerade zur Rettung einer Grossbank gebraucht wurde.

Bestimmt hatte dieser Wechsel schon früher begonnen: Bereits 1979 war die FDP zu den Nationalratswahlen mit dem Slogan «Mehr Freiheit und Verantwortung – weniger Staat» angetreten. Er richtete sich gegen den Ausbau des Wohlfahrtsstaats. Und selbstverständlich gibt es historisch immer verschiedene «Staaten», die sich überlagern: der Sozial- oder der Rechtsstaat, der National- oder der Überwachungsstaat. Wenn also vom «Staat» die Rede ist, muss die Frage zuerst lauten: In welcher Form genau?

Nach 1989 war vom Staat häufig nur in seiner negativen Form die Rede. Die Bürgerlichen setzten, dem weltweiten neoliberalen Trend folgend, den individuellen Eigennutz absolut, forderten in einem «Weissbuch» Privatisierungen und bis heute einen Abbau der sozialen, sprich der gemeinsamen Vorsorge, besonders für das Alter. Die RechtspopulistInnen, die nach der Wende einen starken Aufstieg erlebten, verkürzten den Staat, der gemeinhin aus Verfassung, Territorium und Staatsvolk besteht, auf das eine Element des Volks und seinen mythisch überhöhten Willen – mit einer Tyrannei der Mehrheit als Folge, die die Grundrechte der Einzelnen mit Füssen tritt.

So gesehen, ist 25 Jahre nach dem Mauerfall der Staat neu zu entdecken. Ein Staat, verstanden als Ort der Aushandlung von sozialen Bindungen und gemeinsamen Interessen. Denn so, wie der Untergang des real existierenden Sozialismus lehrte, dass es keine kollektive Organisation ohne individuelle Freiheit geben kann, so zeigen der zügellose Neoliberalismus und die grassierende Fremdenfeindlichkeit, dass dies auch umgekehrt gilt. Die individuelle Freiheit entsteht erst gemeinsam. Wie sieht ein Staat aus, in dem alle mitbestimmen, die hier wohnen? Wie lässt sich ein Staat finanzieren, damit sich nicht nur die Vermögen der Besitzenden vermehren? Oder um von den Infrastrukturen zu sprechen: Wie sähe ein Internet aus, das nicht nur den Konzernen gehört und sich über die individuelle Selbstausbeutung finanziert?

Ein Jahr nach dem Fichenskandal hielt der Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt eine viel beachtete Rede, die sich noch heute aktuell liest. Die Schweiz sei ein Gefängnis, sagte er, bestehend aus Gefängniswärtern, die sich gegenseitig bewachen würden. «Die Gesellschaft kann nie gerecht, frei, sozial sein, sondern nur gerechter, freier, sozialer werden», sagte Dürrenmatt. Als Orientierungspunkt empfahl er die Menschenrechte. Die im Publikum anwesenden Bundesräte sollen über seinen Auftritt sehr erbost gewesen sein.