Dienstleistungsabkommen Tisa: Diese guten Freunde sind verschwiegen

Nr. 45 –

Das Dienstleistungsabkommen Tisa gefährdet nicht nur den Service public. Wegen des Tisa droht auch eine neue Deregulierungswelle auf den Finanzmärkten. Unter welchem Mandat verhandelt die Schweiz eigentlich?

Es ist wie in einem schlechten Film. Eine Gruppe von Staaten – viele davon sind reich und mächtig, der Rest wäre es gern – trifft sich seit 2012 zu Geheimverhandlungen. Dabei geht es um etwas sehr Öffentliches: den Service public. Aber auch um andere Dienstleistungen wie Tourismus, Banking oder Versicherungen. Einen Unterschied zwischen öffentlichen und privaten Dienstleistungen sieht die Runde nicht: Alles soll möglichst dereguliert und privatisiert werden. Als müssten sie der Welt beweisen, dass sie Gutes tun, nennen sich die Verhandelnden «Really Good Friends of Services».

Die Pläne der «Friends» sind ehrgeizig: Schon nächstes Jahr soll das Dienstleistungsabkommen Tisa (Trade in Services Agreement) stehen. Fünfzig Staaten machen mit, auch die ganze EU und die Schweiz. Der Bundesrat hat das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) mit den Verhandlungen beauftragt. Ein parlamentarisches Mandat für die Verhandlungen gibt es nicht. «Das heisst, es wird ohne demokratischen Auftrag verhandelt», sagt Rahel Imobersteg von der Gewerkschaft VPOD. «Wenn der Vertrag steht, kann das Parlament ihn zwar noch ablehnen, aber ziemlich sicher nichts mehr daran ändern.»

Dereguliert für immer

Mit dem Tisa sollen private Unternehmen Zugang zu den Dienstleistungsmärkten aller beteiligten Länder erhalten. Sie müssten gleich behandelt werden wie inländische Unternehmen oder öffentliche Anbieter: Private Kliniken oder Universitäten hätten dasselbe Recht auf Unterstützung wie öffentliche. Auch Verkehr und Post, Stromversorgung und Kultur wären betroffen. «Es könnten Bereiche privatisiert werden, von denen wir uns gar nicht vorstellen können, dass sie profitabel sind», sagt Imobersteg.

Vieles am Tisa kommt ihr bekannt vor – sie war schon um die Jahrtausendwende als StudentInnenpolitikerin am gleichen Thema dran. Damals hiess das Abkommen Gats (General Agreement on Trade in Services) und war Teil der Verhandlungen im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO). Der Verband der Schweizer Studierenden organisierte Veranstaltungen, schrieb Broschüren gegen das Gats und protestierte bei Treffen mit Staatssekretären und Hochschulleitungen.

Bereits mit dem Gats drohte der Ausverkauf der Hochschulen und vieler anderer öffentlicher Einrichtungen. Kampagnen gegen das Abkommen waren ein wichtiges Thema der sogenannten Antiglobalisierungsbewegung. Der Widerstand auf der Strasse – am bekanntesten wurde die umkämpfte WTO-Konferenz 1999 in Seattle – beeinflusste die Verhandlungen: Schwellenländer und arme Länder verweigerten die Liberalisierung der öffentlichen Dienste genauso wie das geplante Agrarhandelsregime. Die 2001 eröffnete Doha-Runde war bald blockiert, 2011 musste das die WTO auch offiziell zugeben.

«Tisa ist die Neuauflage des Gats», sagt Rahel Imobersteg, «und noch demokratiefeindlicher als alle bisherigen Abkommen.» Während das Gats mit Positivlisten arbeitete – die Staaten kündigten an, welche Bereiche sie liberalisieren wollen –, setzt das Tisa beim Marktzugang auf Negativlisten. Das heisst, die Staaten müssen definieren, welche Dienstleistungen sie nicht dem Wettbewerb aussetzen wollen. Alles andere wird liberalisiert, auch Bereiche, die erst in Zukunft entstehen. VPOD-Generalsekretär Stefan Giger gibt ein Beispiel: «Wenn neue Energieträger entwickelt würden, dürfte man ihre Verteilung nicht öffentlich organisieren. Aber es muss doch möglich sein, den Service public in Zukunft anders zu definieren oder auszuweiten!» Ausserdem gilt: Deregulierungen dürfen nicht rückgängig gemacht werden, selbst wenn sie schlimme Folgen haben.

«Was ist, wenn sich eine verhandelnde Partei irrt?», fragt Giger. «Ausgerechnet die USA mussten beim Gats einen Rückzieher machen. Sie hatten versprochen, die Glücksspiele zu liberalisieren, und merkten hinterher, dass sie das gar nicht können, weil nach US-Recht die Bundesstaaten für Glücksspiele zuständig sind.»

«Auf Vertraulichkeit angewiesen»

Fast alles, was öffentlich bekannt ist über das Tisa, weiss man nur dank WhistleblowerInnen. Wikileaks hat diesen Sommer ein internes Tisa-Dokument veröffentlicht, und auch einige EU-MitarbeiterInnen waren nicht ganz so verschwiegen wie verlangt. Offiziell bleiben Details der Verhandlungen nach einem Abschluss oder einem Scheitern für fünf Jahre geheim.

Ist diese Geheimhaltung mit den Prinzipien der Schweizer Demokratie vereinbar? Christian Etter, Leiter des Bereichs Aussenwirtschaftliche Fachdienste beim Seco (der die Fragen der WOZ nur schriftlich beantworten will), meint: «Jede Verhandlung ist auf eine gewisse Vertraulichkeit angewiesen.» Der Bundesrat informiere die zuständigen parlamentarischen Kommissionen, und es gebe Infos auf der Seco-Website. Das stimmt: Die Schweiz hat ihre Ausgangsofferte veröffentlicht. «Aber es bringt nicht viel, die Offerte zu kennen», sagt Stefan Giger. «Das Regelwerk steht nicht darin, sondern im geheimen Vertrag.»

Das Wikileaks-Dokument handelt vom Finanzsektor. Die Rechtsprofessorin Jane Kelsey von der Universität Auckland, Neuseeland, hat es analysiert. Ihr Fazit: «Das Tisa ist zugeschnitten auf die globale Finanzindustrie und in enger Zusammenarbeit mit ihr gestaltet worden.» Als hätte es nie eine Finanzkrise gegeben, ziele das Abkommen auf eine weitere Liberalisierung des Finanzsektors ab, so Kelsey. Das Tisa soll aus dem Weg räumen, was die Finanzindustrie als Hindernisse betrachtet: etwa Einschränkungen für Hedgefonds und riskante Finanzprodukte, staatliche Monopole auf Pensionsfonds oder Grössenbeschränkungen für Banken. Auch hier gilt: Strengere Regulierungen sind in alle Ewigkeit ausgeschlossen. «Die minimalen Reformen, die nach der Finanzkrise eingeführt wurden, werden die maximal erlaubte Regulierung sein.»

Die grüne Berner Nationalrätin Aline Trede hat im März eine Interpellation zum Tisa eingereicht. Sie wollte wissen, welche Konsequenzen eine Unterzeichnung für den Service public hätte. Der Bundesrat beschwichtigte: Die Schweiz werde keine Verpflichtungen eingehen, «wenn gesetzliche Einschränkungen in Bezug auf den Marktzugang bestehen», wie etwa bei der Energie, der Bildung, dem Gesundheitswesen, dem öffentlichen Verkehr oder der Post.

Im Mai hakte Trede mit einer Motion nach: Der Bundesrat müsse garantieren, 
dass keine Service-public-Leistungen in den Tisa-Verhandlungen offeriert würden, und er solle das Verhandlungsmandat den zuständigen parlamentarischen Kommissionen offenlegen.

Aline Trede erzählt: «Kurz nach der Interpellation traf ich an einem Apéro Leute vom Seco. Sie wirkten aufgeschreckt. Mir scheint, sie haben Angst vor einer öffentlichen Tisa-Debatte.» Kein Wunder, meint Trede: Dass das Seco keine einzige Medienmitteilung zum Tisa veröffentlicht habe, mache misstrauisch. «Es ist inakzeptabel, dass das Seco ohne parlamentarisches Mandat über ein 
Abkommen mit so krassen Konsequenzen verhandelt.»

Durch die Hintertür

In der Antwort des Bundesrats auf Tredes Interpellation fällt ein krasser Widerspruch auf. Zuerst schreibt der Bundesrat, das Tisa werde gestützt auf Artikel 5 des Gats «ausserhalb der WTO ausgehandelt». Dann heisst es: «Die Schweiz verhandelt im Tisa auf der Basis des Doha-Mandats», also des Mandats für die WTO-Runde.

Doch das Tisa ist kein Teil der WTO: Die kritischen Staaten wurden bewusst nicht eingeladen, so haben die USA die Teilnahme von China verhindert. Für Christian Etter vom Seco ist das jedoch kein Problem: Das Tisa sei aus dem Doha-Prozess hervorgegangen. «Die Verhandlungsziele der Schweiz sind dieselben.» Zudem sei «die Rückführung» des Tisa in die WTO das Ziel. «Weil es im Rahmen der WTO nicht ging, versuchen es die Liberalisierer durch die Hintertür», kommentiert Rahel Imobersteg vom VPOD. Der Druck auf die WTO-Mitglieder werde immens sein, schreibt Rechtsprofessorin Jane Kelsey.

Der Widerstand hoffentlich auch. Imobersteg setzt auf die Zivilgesellschaft: «Vor zehn Jahren erklärten sich Gemeinden in vielen Ländern zu Gats-freien Zonen. Ich halte das immer noch für ein gutes Mittel, um Regierungen unter Druck zu setzen.» Eine Petition (www.stop-tisa.ch) läuft bereits. Falls das Tisa zum Abschluss kommt, wird in der Schweiz das Parlament entscheiden, ob das Referendum ergriffen werden kann. «Es braucht auf jeden Fall ein Referendum», sagt Aline Trede. «Aber ich glaube, Tisa wird schon im Parlament scheitern.»

Tisa: Angriff auf das Gesundheitswesen

Nachtrag vom 12. Februar 2015

Seit drei Jahren verhandeln in Genf 55 Staaten, darunter die Schweiz, über ein internationales Freihandelsabkommen für Dienstleistungen. Die Ziele des Abkommens – bekannt unter dem Kürzel Tisa (Trade in Services Agreement) – sind geheim. Doch gelangen periodisch immer wieder Unterlagen an die Öffentlichkeit, die zeigen, wie sehr damit die demokratische Kontrolle über den Service public zugunsten privater Unternehmen ausgehebelt werden soll.

Neuste Enthüllungen der Associated Whistleblowing Press dokumentieren, dass weitreichende Reformen der staatlichen Gesundheitssysteme diskutiert werden. In einem (angeblich von der Türkei eingebrachten) Konzeptpapier ist davon die Rede, dass das Potenzial für die Globalisierung von Gesundheitsdienstleistungen bei weitem nicht ausgeschöpft sei – was in erster Linie daran liege, dass «die Gesundheitsversorgung von staatlichen Institutionen oder Wohlfahrtsorganisationen finanziert und übernommen wird und für ausländische Wettbewerber aufgrund des Mangels an marktorientierten Betätigungsfeldern praktisch nicht von Interesse» sei.

Public Services International (PSI), die Internationale der öffentlichen Dienste, zu der auch die Schweizer Gewerkschaft VPOD gehört, nimmt in einer Medienmitteilung zu den neusten Enthüllungen Stellung. Nach Ansicht von PSI würde das Vorhaben «die Gesundheitskosten in den Entwicklungsländern in die Höhe treiben und zu einem Qualitätsverlust in den entwickelten Ländern führen». Während wohlhabende VerbraucherInnen und private Gesundheitsdienstleister davon profitieren würden, würden finanzielle Mittel aus den staatlichen Gesundheitssystemen abgezogen werden. Das wäre umso verheerender, als das Abkommen auch vorsieht, dass gescheiterte Privatisierungen nicht wieder in die öffentliche Hand überführt werden können.

Der Widerstand in der Schweiz, der vor einem Jahr vom VPOD mit der Petition «Stop Tisa» lanciert wurde, ist nun auch in den kommunalen Parlamenten angekommen: Nach Bern haben VertreterInnen der Grünen auch in Zürich Vorstösse für eine «Tisa-freie» Stadt eingereicht.

Adrian Riklin