Dienstleistungsabkommen Tisa: Geheime gute Absichten
Der Bundesrat will im Zusammenhang mit dem Dienstleistungsabkommen Tisa nichts von einer Mitsprache des Parlaments oder der Öffentlichkeit wissen. Dass es auch anders ginge, beweist Uruguay – und entlarvt dabei erst noch die Gefährlichkeit von Tisa.
Die Zukunft unseres alltäglichen Zusammenlebens wird hinter verschlossenen Türen in einem umzäunten grauen Klotz im Nordwesten Genfs verhandelt. Hier im australischen Generalkonsulat beschäftigt sich seit drei Jahren eine Gruppe von fünfzig Staaten, mehrheitlich reiche Industrieländer, mit dem Dienstleistungsabkommen Tisa (Trade in Services Agreement). Auch die Schweiz ist beteiligt: Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) nimmt im Auftrag des Bundesrats teil. Debattiert wird über fast alles, was es zum Leben braucht: die Wasserversorgung, das Gesundheitswesen, die Telekommunikation, das Bildungswesen und die Energieversorgung. Die möglichen Auswirkungen des Abkommens werden alle betreffen, doch die BürgerInnen, ja selbst das Parlament sind von den geheimen Verhandlungen ausgeschlossen.
Dabei ist schon die Grundlage der Schweizer Beteiligung an den Verhandlungen fragwürdig: Ein offizielles Tisa-Mandat existiert nämlich gar nicht. Die Schweiz verhandle auf Basis des Doha-Mandats, heisst es beim Seco, also jenes Mandats, das der Bundesrat vor über zehn Jahren für die Verhandlungen im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO) verabschiedet hat. Allerdings ist Tisa gerade nicht Teil der WTO: Die gegenüber Handelsabkommen kritischeren Bric-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China) und die Entwicklungsländer sind bewusst von den Tisa-Verhandlungen ausgeschlossen.
Der Inhalt des Doha-Mandats sei «nicht öffentlich», sagt das Seco. Auch der grösste Teil des Parlaments kennt das Mandat nicht, einzig die aussenpolitische Kommission hatte vor Jahren Einblick. «Kompetenz und Verantwortung über die Verhandlungsführung verbleibt einzig beim Bundesrat», heisst es beim Seco, das für weitere Auskünfte auf seine Website verweist.
Tatsächlich stehen dort gewisse Informationen zur Verfügung, unter anderem die Schweizer Anfangsofferte. Allerdings sind die Angaben unvollständig. So fehlt von den entscheidenden «sektoriellen Anhängen», die die Regeln in den einzelnen Dienstleistungsbereichen definieren, jede Spur. Und die wenigen veröffentlichten Verhandlungsdokumente sind nur auf Englisch verfügbar.
Deregulierung oder Wertschöpfung?
Die Tisa-Verhandlungen schreiten zügig voran. Anfang September sagte Christian Etter, Seco-Delegierter des Bundesrats für Handelsverträge, an einer Podiumsdiskussion, die Verhandlungen befänden sich «im zweiten Drittel». Etter nannte dabei auch das Hauptziel des Abkommens: «Handelshemmnisse abbauen».
Als solche gilt grundsätzlich alles, was den Marktzugang erschwert, also beispielsweise Subventionen oder die Inländerbevorzugung bei der Vergabe eines öffentlichen Auftrags. Tisa liege «im Interesse der Schweiz», sagte Etter weiter, da das Land ein wichtiger Dienstleistungsexporteur sei – und räumte damit jegliche Zweifel am Abkommen aus dem Weg. Der Service Public bleibe geschützt. Um Deregulierung oder Privatisierung, wie die Gewerkschaften monierten, gehe es gar nicht, sondern um «internationale Wettbewerbsfähigkeit», um «Wertschöpfung» und «Arbeitsplätze».
Lehrstunde in Demokratie
Zwei Tage vor dem Auftritt von Christian Etter kam die Regierung von Uruguay zu einer gänzlich anderen Einschätzung von Tisa: Das Abkommen sei «nachteilig» für das südamerikanische Land, deshalb verlasse es die Verhandlungen. Die Nachricht ging im deutschsprachigen Raum unter (nur «Neues Deutschland», «Junge Welt» und das Onlineportal «amerika21» berichteten). Dabei ist die Entscheidung Uruguays höchst bemerkenswert, mehr noch: Sie ist eine Lehrstunde in Demokratie.
Uruguay bewarb sich im September 2013 um einen Beitritt zu den Tisa-Verhandlungen, noch unter dem damaligen linken Präsidenten José Mujica. Im Februar 2015 war die Teilnahme dann offiziell, was umgehend zu Protesten von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen führte. Zweimal fanden im ersten Halbjahr landesweite Streiks statt, mehrere Zehntausend TeilnehmerInnen demonstrierten jeweils in der Hauptstadt Montevideo gegen Tisa.
Dieser Druck von der Strasse veranlasste die Regierung von Ministerpräsident Tabaré Vázquez, von den einzelnen Ministerien Analysen über die erwarteten Auswirkungen von Tisa einzufordern, um so eine Debatte innerhalb des regierenden linken Parteienbündnisses Frente Amplio zu ermöglichen. Anfang September wurde abgestimmt, das deutliche Ergebnis: 117 zu 22 Stimmen für einen Verhandlungsausstieg.
Besonderheit: «Negativlisten»
Da die Zeitung «La Diaria» die Zusammenfassungen der ministeriellen Analysen einsehen konnte, sind die Kerninhalte öffentlich. So kam das Arbeitsministerium zum Schluss, dass einige Tisa-Auflagen gegen Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation der Uno (ILO) verstossen, die Uruguay ratifiziert hat. Das Industrieministerium sah die aktuelle Telekommunikationspolitik in Gefahr. Der Sektor ist bisher in staatlicher Hand, die unter anderem dafür gesorgt hat, dass alle Schulen an ein leistungsstarkes Glasfaserkabelnetz angeschlossen sind und SchülerInnen das Internet gratis nutzen dürfen. Das Landwirtschaftsministerium wiederum fürchtete eine Gefährdung des gegenwärtig gut funktionierenden Herkunftsnachweises für Fleischerzeugnisse, die ein wichtiges Exportgut darstellen. Und das Gesundheitsministerium äusserte starke Bedenken gegenüber den «Negativlisten», auf die Tisa setzt. Die Listen sind eine Besonderheit: Die Staaten definieren bloss, welche Dienstleistungen sie nicht dem Wettbewerb aussetzen wollen. Alles andere wird liberalisiert. Auch Bereiche, die erst in Zukunft entstehen könnten, dürfen nicht mehr staatlich sein. Der Gesundheitsbereich verändere sich aber dermassen schnell, liess das Gesundheitsministerium verlauten, dass es keine solche Liste ausfüllen könne.
Dieser geballten Kritik an Tisa standen auch positive Analysen aus dem Aussen- und dem Wirtschaftsministerium gegenüber. Diese konnten die linke Regierungskoalition allerdings nicht von einer Fortführung der Verhandlungen überzeugen.
«Die Anhänge sind eine Blackbox»
In der Schweiz ist man weit von so einer transparenten und öffentlichen Debatte über Tisa entfernt. Zwar regt sich langsam der gewerkschaftliche Widerstand – allen voran im Verband des Personals öffentlicher Dienste (VPOD) –, und die Grünen sowie die SP beginnen, Fragen an den Bundesrat zu stellen. Aber in der öffentlichen Wahrnehmung ist Tisa bisher nicht angekommen.
José Corpataux, Zentralsekretär beim Schweizerischen Gewerkschaftsbund, gehört zu den wenigen Menschen in diesem Land, die vom Seco über die Tisa-Verhandlungen ins Bild gesetzt werden: im offenen Forum der Begleitgruppe WTO/Freihandelsabkommen. Corpataux attestiert dem Seco durchaus gute Arbeit in Bezug auf den Schutz des Service Public. «In der Anfangsofferte hat die Schweiz tatsächlich Bereiche wie Energie, öffentliche Bildung, Gesundheitswesen, Verkehr und Post geschützt», sagt Corpataux. Allerdings sei unklar, wie gut dieser Schutz ist. Denn das Tisa-Abkommen bestehe auch aus sogenannten sektoriellen Anhängen, die die Regeln in den einzelnen Bereichen definieren. «Über diese Anhänge wissen wir viel zu wenig. Ihre Existenz ist ja überhaupt erst durch Enthüllungen auf Wikileaks bekannt geworden», sagt Corpataux. Ihm sei noch immer unklar, was eigentlich gelte. Sei das Postwesen geschützt durch die Offerte der Schweiz, oder drohe internationale Konkurrenz, weil der sektorielle Anhang das vorsieht? «Und was passiert, wenn die USA oder die EU andere Interessen verfolgen als die Schweiz? Ich zweifle, dass sich das Seco in so einem Fall durchsetzen kann. Diese Anhänge sind eine Blackbox», so José Corpataux.
Bundesrat: Keine Garantien
Auch der SP-Nationalrat Jean-Christophe Schwaab war angesichts der auf Wikileaks publizierten sektoriellen Anhänge alarmiert. Im März reichte er eine Interpellation ein, in der er den Bundesrat fragte, ob die Tisa-Anhänge eine Gefahr für den Schweizer Service Public darstellten. Die Schweiz gehe beim Service Public keine Verpflichtungen ein, liess der Bundesrat verlauten. Und er sei ferner der Ansicht, «dass er keine Garantien aussprechen muss, um seine guten Absichten unter Beweis zu stellen».
Die «guten Absichten» hält der Bundesrat geheim. Angesichts des erklärten Hauptziels von Tisa dürften sie vor allem eines bedeuten: den Abbau von Handelshemmnissen.