Familie Tarakhel gegen die Schweiz: Ein Urteil gegen die Gleichgültigkeit
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte rügt die Schweizer Ausschaffungspraxis nach Italien. Es ist die Strafe für eine Politik des Verwaltens und Wegschauens. Das Urteil aus Strassburg könnte die europäische Asylpolitik nachhaltig prägen.
Nach dem Urteil setzten die Schweizer Behörden auf Beschwichtigung: Ausschaffungen nach Italien seien grundsätzlich weiter möglich, das Dublin-System sei nicht infrage gestellt, es gehe um einen Einzelfall, bei dem nun halt zusätzliche Auflagen erfüllt werden müssten.
Auswirkungen auf die künftige Schweizer Asylpolitik? Keine Ahnung. Grundsätzliches Umdenken? Fehlanzeige.
Ist das echte Ratlosigkeit oder ausgefuchste Taktik? Die Verunsicherung der Schweizer Politik nach der Schelte durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ist jedenfalls offenkundig. Und wie immer, wenn es an eindeutigen Erklärungen mangelt, wenn um Begrifflichkeiten gerungen und um Interpretationen gefeilscht wird, belegt diese Verwirrung selbst am besten, dass etwas von Bedeutung geschehen ist.
Am Dienstag veröffentlichte die Grosse Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) ihren Entscheid im Fall Tarakhel gegen die Schweiz. In einem wegweisenden Urteil befanden die RichterInnen in Strassburg (darunter auch eine Schweizerin), dass die Schweiz die Menschenrechte verletzte, würde sie die achtköpfige afghanische Flüchtlingsfamilie Tarakhel nach Italien ausschaffen, ohne vorgängig bestimmte Zusicherungen im Nachbarstaat einzuholen. Die Schweiz müsse von Italien individuelle Garantien verlangen, dass die Familie nach einer Ausschaffung angemessen untergebracht und nicht voneinander getrennt würde. Ansonsten verstosse die Schweiz gegen das in der Menschenrechtskonvention verbriefte Verbot unmenschlicher und erniedrigender Behandlung, da die Unterbringungssituation für Flüchtlingsfamilien in Italien desolat sei.
Das Bundesamt für Justiz (BJ) und das Bundesamt für Migration (BFM) versuchten, die Bedeutung des Urteils kleinzureden: «Die Überstellung einer achtköpfigen afghanischen Familie nach Italien ist zulässig», hiess es im ersten Satz der Medienmitteilung. Lediglich nachgeschoben, als wären grundlegende Menschenrechte ein Wurmfortsatz, nannten die Behörden die Auflagen für die allfällige Ausschaffung der afghanischen Familie mit sechs Kindern im Alter von zwei bis fünfzehn Jahren. Dabei verhält es sich gerade umgekehrt: Die Schweiz darf die Flüchtlingsfamilie nicht ausschaffen, solange nicht sicher ist, dass sie in Italien eine menschenwürdige Unterkunft erhält. Dasselbe gilt künftig auch für weitere ähnlich gelagerte Fälle.
Das Ende des Automatismus
Der Einzelfall zählt. Aber das Urteil des Gerichtshofs für Menschenrechte ist mehr als das – es ist grundsätzlich, wegweisend und bedeutsam.
Erstens: Das Urteil ist zunächst ein Teilsieg für Familie Tarakhel, die mit Unterstützung des Hilfswerks der evangelischen Kirchen Schweiz (Heks) an den Menschenrechtsgerichtshof in Strassburg gelangt war. Nach jahrelanger Odyssee von Afghanistan nach Pakistan, in den Iran, die Türkei, nach Italien und Österreich kam die Familie im November 2011 in die Schweiz. Sie bleibt vorerst in Lausanne, wo sie heute lebt. Die Schweizer Behörden wollten sie zwar nach wie vor «nach Italien überstellen», wie Folco Galli, Mediensprecher des Bundesamts für Justiz, sagt, aber ob und wann die Schweiz die geforderten Garantien Italiens erhält, ist alles andere als klar.
Für Dieter Wüthrich, Sprecher des Heks, ist nach dem Urteil eindeutig, dass eine einfache Garantieerklärung Italiens nicht ausreicht, sondern dass die Schweiz diese auch überprüfen muss: «Man darf sich nicht bloss auf Papier verlassen. Denn die bisherigen Garantien Italiens waren offensichtlich unzureichend. Deshalb muss die Schweiz diese Zusicherungen auch selbstständig überprüfen.» Sollten die Garantien nicht erbracht werden können, müsse die Schweiz aktiv werden und das Asylgesuch von Familie Tarakhel materiell prüfen. «Rückblickend wäre es wohl gescheiter gewesen, die Schweiz hätte das bereits früher getan.»
Wüthrich liest das Urteil als «Grundsatzentscheid» für die Gruppe sogenannt verletzlicher Personen, also für Familien mit Kindern oder für Minderjährige. Es bedeute eine Praxisänderung: «Der Automatismus des Dublin-Abkommens ist für diese Personengruppe aufgehoben.» Das Dublin-Abkommen, dem sich die Schweiz 2008 angeschlossen hat, sieht vor, dass jener Staat für Flüchtlinge zuständig ist, in dem diese ihren ersten Asylantrag stellen. Ersuchen sie in einem weiteren Land um Asyl, muss dieser Staat den Antrag nicht materiell prüfen, sondern kann ihn an das Erstland zurückweisen.
«Das Dublin-System bröckelt»
Zweitens: Das Gericht bestätigte, dass die Aufnahmesituation für Flüchtlinge in Italien nicht menschenwürdig ist. Bereits 2011 hatten die Strassburger RichterInnen einen ähnlichen Fall behandelt, als sie in einem Leitentscheid Rückführungen nach Griechenland grundsätzlich untersagten (vgl. «Wegweisende Urteile» im Anschluss an diesen Text). Die Situationen in Griechenland und in Italien unterscheiden sich zwar erheblich – in Griechenland existiert faktisch kein funktionierendes Asylsystem –, aber der Gerichtshof für Menschenrechte erkennt mit seinem Urteil die prekäre Lage für Flüchtlinge in Italien. Als Beleg dafür wird im Urteil unter anderem angeführt, dass 2013 zwar rund 14 000 Asylgesuche gestellt wurden, aber lediglich 9500 Unterkunftsplätze existierten.
Das italienische Asylwesen ist mit dem heutigen Dublin-System überfordert: Von Europa alleingelassen, trägt es gemeinsam mit Griechenland und Spanien die Hauptlast der aktuellen Flüchtlingskrise. Es mangelt an Personal, Unterkünften, humanitären Mindeststandards. Aber trotz fehlender Unterstützung Europas lancierte Italien mit der Operation «Mare Nostrum» ein Projekt, das laut eigenen Angaben rund 100 000 Flüchtlinge auf dem Mittelmeer retten konnte.
In Italien angekommen, werden zahlreiche Flüchtlinge allerdings auf die Strasse gesetzt, ohne Obdach, ohne Job, ohne staatliche Unterstützung. Familie Tarakhel erlebte dies am eigenen Leib. Sie wurde in Italien erst provisorisch in einer Schule beherbergt, danach in eine Unterkunft gebracht, wo sie auf engstem Raum mit fünfzig weiteren Personen leben musste. Die hygienische Situation sei desaströs gewesen, die achtköpfige Familie teilte sich zwei Matratzen, sie fürchtete sich vor Gewalt in der überfüllten Unterkunft.
Menschenrechtsorganisationen berichten seit längerem von haarsträubenden, unwürdigen Verhältnissen für Asylsuchende. Besonders fundiert sind jeweils die Berichte der deutschen Menschenrechtsorganisation Pro Asyl. Marei Pelzer von Pro Asyl zweifelt daran, dass Italien die vom Gericht geforderten Garantien überhaupt abgeben kann: «Italien war zuletzt ja nicht einmal mehr in der Lage, alle Dublin-Anfragen zu beantworten, überhaupt eine Rückmeldung zu geben.»
Marei Pelzer begrüsst zwar, dass der Menschenrechtsgerichtshof die «katastrophale Unterbringungssituation für Familien» in Italien erkennt, hält aber den Ausweg, den die RichterInnen gewählt haben, für falsch: «Die Erfahrungen mit anderen Ländern wie Griechenland oder Ungarn zeigen, dass blosse Garantieerklärungen meist nichts wert sind. Die richtige Konsequenz wäre ein Stopp für Ausschaffungen von Familien nach Italien gewesen.»
Drittens: Das Urteil der RichterInnen in Strassburg ist nicht zuletzt auch eine Bestätigung der jahrelangen Kritik der Linken am Dublin-System, das die Fragen der Migration an die Ränder Europas delegiert, während Binnenstaaten wie die Schweiz wegschauen. Für Marei Pelzer von Pro Asyl ist der Entscheid auch deshalb wichtig, weil der Blick damit endlich nach Italien gerichtet wird. «Der EGMR hat den Finger auf die Wunde gelegt. Er hat gezeigt, dass das blinde Vertrauen in andere Staaten menschenrechtlich nicht einfach gestattet ist. So gesehen, kann man sagen: Ja, das Dublin-System bröckelt.»
Das Urteil könnte die Schweizer Asylpolitik nachhaltig prägen. Kein anderes Land profitiert stärker vom Dublin-Abkommen als die Schweiz. Seit ihrem Anschluss im Jahr 2008 wiesen die Behörden wegen der Dublin-Bestimmungen rund 20 000 Asylsuchende ab und schafften sie aus, einen Grossteil davon nach Italien (siehe WOZ Nr. 32/2014 ). Das Urteil kann also auch so gelesen werden: als Strafe für die Gleichgültigkeit der Schweiz gegenüber der unmenschlichen Flüchtlingspolitik in Europa, die sie mitverantwortet.
Dublin-Fälle selbst prüfen
Die politische Debatte wird nach der Rüge aus Strassburg nicht erlöschen. Die SVP wettert erwartungsgemäss bereits wieder gegen die Menschenrechte. Und für CVP-Nationalrat Gerhard Pfister unterstützt das Urteil Italien «in seinen Bestrebungen, sich nicht an Dublin zu halten». Das Signal sei fatal: «Je schlechter die Betreuung der Asylbewerber», sagt Pfister, «umso grösser die Chance, keine Verantwortung mehr für sie übernehmen zu müssen.»
Anders sieht es SP-Nationalrätin Silvia Schenker. Sie erkennt im Urteil eine Aufforderung an die Schweiz, nicht nur Überstellungen nach Italien sehr sorgfältig zu prüfen, sondern sich grundsätzlich stärker auf europäischer Ebene in Asylfragen zu engagieren. «Es genügt eben nicht, nur die Zuständigkeiten in Europa zu definieren. Es müssen auch in allen Ländern ähnliche Standards für Abläufe und für die Unterbringung von Asylsuchenden angestrebt werden, speziell für schutzbedürftige Personen.» Zudem müsse die Schweiz überlegen, ob sie künftig nicht häufiger das Selbsteintrittsrecht anwenden wolle. Anstatt Asylgesuche aus Dublin-Staaten einfach zurückzuweisen, könnte sie solche Fälle vermehrt selbst prüfen.
Wegweisende Urteile
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg hat in den letzten Jahren wiederholt die Rechte der Flüchtlinge gestärkt. Dabei kommt zum Ausdruck, wie stark sich die europäische Asylpolitik in der Praxis von den Menschenrechten verabschiedet hat: 2011 verurteilte der Gerichtshof Belgien und Griechenland, weil ein afghanischer Flüchtling von Belgien nach Griechenland ausgeschafft worden war, wo er menschenunwürdig behandelt wurde.
Wie die anderen europäischen Staaten stellte auch die Schweiz darauf Rückschaffungen nach Griechenland ein. 2012 erzielten somalische und eritreische Flüchtlinge einen wichtigen Erfolg: Italien wurde verurteilt, weil es ein Flüchtlingsboot direkt nach Libyen zurückgebracht hatte, ohne die Asylgesuche der Insassen zu prüfen. Seither gilt das Non-Refoulement-Prinzip – es verbietet Rückschaffungen in Länder, in denen Folter droht – auch auf hoher See.