Belgien: Feuer und Federn für die Regierung

Nr. 50 –

Auf den sozialen Kahlschlag der neuen belgischen Regierung antworten Gewerkschaften mit den grössten Protesten seit fünfzig Jahren. Am 15. Dezember steht ein Generalstreik an.

Jedes Mal, wenn der Bus der sozialistischen Gewerkschaft ABVV auftaucht, beginnt es zu regnen. Federn, und zwar säckeweise, werden mit einem dröhnenden Laubgebläse in die kalte Luft vor den geschlossenen Werktoren gewirbelt. «Lass dich nicht rupfen», dröhnt das Motto der Proteste zwischen massiven Beats aus einem riesigen Lautsprecher. Petarden legen die Szenerie in bunte Rauchwolken. So wird selbst aus dem unscheinbarsten Streikposten eine beschwingte Strassenparty.

Marina Fondu freut sich darüber. Die kleine Frau mit kurzen dunklen Haaren hält seit fünf Uhr morgens in Aarschot, einer Kleinstadt nordöstlich von Brüssel, vor der Duracell-Fabrik die Stellung. Es ist der letzte von drei regionalen Streiktagen, und heute sind die Hauptstadt und ihre Umgebung an der Reihe. Ein wenig Stimmung ist sehr willkommen, findet Marina Fondu, und auch die Waffeln und Energydrinks in knallroten Dosen mit ABVV-Logo. Schliesslich gilt es auszuharren, mindestens, bis um 22 Uhr die Nachtschicht beginnt. Siebzehn Stunden bei zwei Grad über null. Mit Schichtbetrieb kennt sich Fondu aus: Seit 35 Jahren arbeitet sie hier am Fliessband. Das fordert seinen Tribut. Eigentlich wollte die bald 55-Jährige in ein paar Jahren in Altersteilzeit gehen. Doch diese Möglichkeit soll nun durch neue Bedingungen drastisch eingeschränkt werden.

Kaum war die neue rechtsliberale Regierungskoalition im Oktober gebildet, regte sich der Widerstand gegen ihren Koalitionsvertrag, der weitreichende Sparmassnahmen vorsieht (vgl. «Rechtsliberale Einschnitte» im Anschluss an diesen Text). Die Pläne bringen die drei grossen belgischen Gewerkschaften zusammen: ACV, die christlichen «Grünen»; ACLVB, die liberalen «Blauen»; und ABVV, die sozialistischen «Roten». In Aarschot stehen sie einträchtig um die Feuertonnen vor dem Fabriktor. «Früher gab es das nicht», sagt Fondu, «aber wir müssen zusammenarbeiten. Sie nehmen uns alles weg, wofür wir jahrelang gekämpft haben.»

Bis die Regierung fällt

Auf dem Flughafen Brüssel-Zaventem dämmert es gerade. Grüne und rote GewerkschafterInnen tragen gemeinsam riesige Tüten mit Croissants zum Streikposten auf dem ausladenden Gewerbegebiet Brucargo. Die Zufahrten sind mit Trolleys verstellt. Auf der begrünten Verkehrsinsel sind Banner der Gewerkschaften gespannt, in der Mitte brennt ein Lagerfeuer.

Es ist ein grosser Streikposten mit etwa siebzig Menschen, zwischen ihnen sieht man Peter Wits immer wieder mit Holz auf den Schultern zum Feuer gehen. Seit achtzehn Jahren ist der 57-Jährige, der in einem Frachtbetrieb arbeitet, Delegierter der Roten. Auf seinem markanten Gesicht zeigt sich die Erfahrung von fünfzehn Streiks – und eines Berufs, bei dem wie selbstverständlich auch an Sonn- und Feiertagen gearbeitet wird. Der Stundenlohn, meint Wits, liege zwischen zwölf und fünfzehn Euro, durchschnittlich verdiene man in seiner Firma netto 1600 Euro pro Monat. Die harte Konkurrenz zwischen seinem Betrieb Aviapartner und Swissport drücke die Löhne.

Im ersten Licht erscheint ein Flugzeug, das eben aufgestiegen ist – an diesem Morgen eine geradezu auffällige Erscheinung. Der Streik macht sich bemerkbar: Rund die Hälfte aller Flüge musste abgesagt werden. Wits will sich damit nicht zufriedengeben: «Das Ziel ist, dass diese Regierung fällt. Man kann nicht mit ihr reden.» Verantwortlich dafür sei vor allem die nationalistische, flämische Nieuw-Vlaamse Alliantie (N-VA), die als stärkste Partei die harten Sparvorhaben massgeblich prägt. «Dazu kommen ihre Ausfälle gegenüber den Gewerkschaften. Sie haben eine Abneigung gegen alles, was links ist.»

Für François De Koninck ist die politische Lage etwas vertrackter: Die Christdemokraten, die er gewählt hat, sind an der Koalition beteiligt. Jetzt ist der Zollbeamte enttäuscht von seiner Partei. «Immerhin würden sie am ehesten eine Vermögenssteuer einführen, um die Einschnitte etwas abzufedern.» Die Einseitigkeit der Einschnitte stört De Koninck am meisten: «Die Massnahmen betreffen vor allem die einfachen Menschen. Es gibt keine Sparpläne, die das Kapital treffen.»

Es sagt etwas aus über die Lage im Land, wenn eine solch klassenkämpferische Analyse von einem christlichen Gewerkschafter kommt. Wie belastbar ist sie denn nun, die neue Einheit der Gewerkschaften? Am Abend zuvor gab es Berichte, dass sich die liberalen KollegInnen gar aus dem gemeinsam geplanten Generalstreik am kommenden Montag zurückzögen, falls die Regierung die Einführung einer Vermögenssteuer befürworte. De Koninck zuckt die Schultern. «Die liberale Partei hat deutlich gesagt, dass es keine Vermögenssteuer geben wird. Also findet der Generalstreik auf jeden Fall statt.»

Breite Unterstützung

Entschlossen ist auch die Stimmung im roten Bus, der mit funkiger Musik durch die gerade erwachende Peripherie der Hauptstadt fährt. Hinten im Bus sitzt Rudy De Leeuw, der Vorsitzende des ABVV. Sein Fazit auf halber Strecke: ziemlich positiv. Die 120 000 Menschen, die vor einem Monat in Brüssel gegen das Sparprogramm protestierten. Die hohe Streikbereitschaft im öffentlichen Dienst und in privaten Betrieben. Und besonders die breite gesellschaftliche Unterstützung: «Das ist ein wesentlicher Unterschied zu früheren Streiks. Es liegt daran, dass so viele Menschen von den Plänen betroffen sind.» Tatsächlich sieht man an den Streikposten an diesem Tag auch Anstecker der neuen Bewegung «Hart boven hard» (Herz statt Härte), die gegen die Einschnitte der Regierung mobilisiert und zu Solidarität mit den Streikenden aufruft.

Gegen Mittag kommt der Bus in der Kleinstadt Leuven zum Stillstand. Ein gut bevölkerter Streikposten versperrt die Zufahrt zu einer Brauerei von Anheuser-Busch Inbev – einem der grössten Brauereiunternehmen der Welt. «Alles ist platt heute, das haben wir einstimmig so beschlossen», sagt Luc Coekaerts, ein Vertreter der Belegschaft. «Wenn wir in Belgien eine soziale Politik wollen, muss diese Regierung fallen.» Vor den Zelten des Postens wirbeln schon wieder Tausende kleiner brauner Federn.

Ein paar Hundert Meter weiter liegen Zug- und Busbahnhof von Leuven in völliger Reglosigkeit. «Der Zugverkehr im gesamten Netz ist gründlich gestört», informiert eine Anzeigetafel. Nächsten Montag soll dann das gesamte belgische Schienennetz lahm liegen. Und der ABVV lässt am Abend verlauten, zumindest im öffentlichen Dienst wolle man auch 2015 die Streikwelle weiterführen.

Belgiens Regierung : Rechtsliberale Einschnitte

Nach den belgischen Parlamentswahlen vom 25. Mai 2014 beauftragte König Philippe die beiden grössten Parteien, die flämischen Nationalisten (N-VA) und die wallonische liberale Partei Mouvement Réformateur (MR), mit der Koalitionsbildung. Am 11. Oktober, nach fünf Monaten Verhandlungen, wurde die neue Regierung unter Premierminister Charles Michel (MR) vereidigt. Sie besteht aus den beiden liberalen Parteien MR und Open VLD (flämische Liberale und Demokraten), den flämischen Christdemokraten (CD & V) sowie der N-VA.

Die rechtsliberale Ausrichtung der vier Regierungsparteien zeigte sich in der Ausarbeitung des Koalitionsvertrags, der weitgehende neoliberale Reformen vorsieht. Inhaltlicher Schwerpunkt ist die Haushaltssanierung, bei der elf Milliarden Euro eingespart werden sollen. Ein weiterer zentraler Punkt ist das Aussetzen des Indexsystems, das die Lohnentwicklung an diejenige der Preise koppelt. Zudem sind Verschärfungen und Kürzungen in den Sozialsystemen vorgesehen: Das Rentenalter soll von 65 auf 67 Jahre angehoben werden, Frühpensionierungen und Altersteilzeit sollen erschwert werden. Auch die Kriterien für den Bezug von Arbeitslosengeld und für Arbeitsunfähigkeit werden deutlich verschärft, während Langzeitarbeitslose einen obligatorischen Gemeinschaftsdienst leisten sollen. Auch im Gesundheitssystem und im öffentlichen Dienst sind massive Kürzungen geplant. Die Massnahmen hätten besonders im strukturschwachen Wallonien, dem südlichen, französischsprachigen Teil Belgiens, gravierende Auswirkungen.

Tobias Müller