Energiestrategie: Potemkinscher AKW-Ausstieg
Fast zwanzig Stunden hat der Nationalrat über die künftige Energiestrategie und den Atomausstieg debattiert. Liest man die Zeitungen, ging die AKW-Lobby geschwächt aus den Verhandlungen hervor, und Mitte-Links gehört zu den GewinnerInnen. Noch selten wurde eine Niederlage so verquer zum Fastsieg umgeschrieben.
Am Anfang stand die dreifache Kernschmelze im AKW Fukushima. Das war im Frühling vor drei Jahren. Im Herbst 2011 standen Wahlen an. Viele PolitikerInnen beschworen in jener Zeit den Atomausstieg und sagten, sie würden sich dafür einsetzen, dass die AKWs nach fünfzig Betriebsjahren vom Netz müssten.
Energieministerin Doris Leuthard verfasste danach die Energiestrategie 2050, mit der der Atomausstieg umgesetzt werden sollte. In der letzten Woche hat der Nationalrat nun das dazugehörige Massnahmenpaket diskutiert. Anfang dieser Woche ging es konkret um die künftige Atompolitik.
Resultat: Die beiden Reaktoren von Beznau dürfen sechzig Jahre in Betrieb sein, die beiden neueren AKWs Gösgen und Leibstadt gar siebzig, achtzig oder noch mehr Jahre. Manche linke und grüne NationalrätInnen glauben, das sei ein anständiger und vertretbarer Kompromiss. Derweil sie eigentlich über den Tisch gezogen wurden. Sechzig Jahre sind das absolute Ende für Beznau, das weiss selbst die Nuklearbranche. Und das hat einen technischen Grund: Aufgrund der Strahlenbelastung versprödet im Inneren einer Nuklearanlage das Material. Man hat mit den Jahren gelernt, die Brennstäbe im Reaktor geschickter anzuordnen, wodurch die Versprödung etwas gebremst wurde. Man hat zusätzliche Sicherheitssysteme eingebaut und praktisch jedes einzelne Kabel erneuert. Aber das Herzstück eines AKWs, der Reaktordruckbehälter, lässt sich weder nachrüsten noch ersetzen. Er versprödet zwangsläufig, vielleicht etwas langsamer als ursprünglich berechnet, aber unaufhaltsam. Dieser Behälter ist das Allerheiligste in einem Atommeiler. Er muss am meisten aushalten und darf niemals versagen, weil dann kein Sicherheitssystem mehr vor der Superkatastrophe schützt. Sechzig Jahre dürften physikalisch die absolute Limite für die Druckbehälter von Beznau und Mühleberg sein – deshalb ist es kein Kompromiss, sondern eine Kapitulation vor den Betreibern.
Wenn nun im Gesetz stehen soll, Beznau, das notabene älteste AKW der Welt, dürfe sechzig Jahre in Betrieb sein, macht das die Schweiz unsicherer als vor Fukushima. Denn früher argumentierten die Betreiber, die alten Meiler müssten nach fünfzig Jahren abgeschaltet werden. Deshalb wollten sie ja auch neue bauen.
Es gab übrigens im Nationalrat einen Antrag, den Betrieb der Altreaktoren auf fünfzig Jahre zu begrenzen, also umzusetzen, was viele NationalrätInnen 2011 noch versprochen hatten. Die Schweizerische Energiestiftung hat die Abstimmung ausgewertet: An die siebzig NationalrätInnen haben ihr Wahlversprechen gebrochen und nicht für die strengere Regelung votiert, darunter der grünliberale Zürcher Martin Bäumle und zehn seiner ParteikollegInnen.
Fatal ist zudem, dass der Nationalrat den AKW-Betreibern faktisch ein Klagerecht einräumt. Seit Wochen drohen die Betreiber, sie würden hohe Forderungen geltend machen, wenn man sie zwänge, ihre Anlagen vom Netz zu nehmen. Um das zu verhindern, sollte ein Passus ins Gesetz aufgenommen werden, der besagt: «Für Anlagen, die gemäss dem genehmigten Langzeitbetriebskonzept oder wegen dem Fehlen oder der Nichteinhaltung eines solchen ausser Betrieb genommen werden, fallen Entschädigungen wegen nicht amortisierter Investitionen ausser Betracht.» Der Passus wurde knapp abgelehnt, wodurch die Betreiber künftig PolitikerInnen wie die Aufsichtsbehörde Ensi mit Klagedrohungen vor sich hertreiben können.
Im Frühjahr berät der Ständerat die Vorlage. Die Bürgerlichen werden weiter am Potemkinschen Dorf namens «Atomausstieg» bauen und sich als VerliererInnen geben.
Die Ausstiegsinitiative der Grünen, die eine Laufzeitbeschränkung von 45 Jahren verlangt, würde den echten Atomausstieg noch retten. Nur dürfte das in den vielen verwirrenden Scheingefechten untergehen.