Der Libanon und die Syrerinnen: Mit Schwester Agnès zurück in die Heimat

Nr. 51 –

Der Fall einer Massenrückführung syrischer Flüchtlinge zeigt auf, wie belastet das Verhältnis zwischen dem Libanon und Syrien weiterhin ist.

  • Unfreundliche Nachbarschaft Karte: WOZ

Rund 1700 syrische Flüchtlinge, die mit knapper Not den Kämpfen in ihrer Heimat Richtung Libanon entronnen waren, wollten Anfang August heimkehren. Das mutet seltsam an – umso mehr, als die Rückführung von einer christlichen Nonne begleitet wurde, die als treue Anhängerin des syrischen Regimes gilt. Doch das Städtchen Arsal am Nordende der Bekaa-Ebene, wo die Flüchtlinge Zuflucht gesucht hatten, bot im August tatsächlich kaum mehr Schutz. Syrische Rebellen und die libanesische Armee bekämpften sich heftig, und auch Einheimische suchten das Weite. «Ich traute mich kaum mehr aus meiner Wohnung, ich fühlte mich nicht mehr sicher», sagt eine Frau, die mit ihrer fünfzehnköpfigen Familie bei Bekannten in Beirut Unterschlupf fand.

Heftige Kämpfe

Kaum eine andere libanesische Stadt ist bisher so unmittelbar in den syrischen Bürgerkrieg verwickelt worden wie Arsal. Das grosse Gemeindegebiet (über 300 Quadratkilometer) grenzt auf zwanzig Kilometern Länge an Syrien, und da die meisten BewohnerInnen SunnitInnen sind, diente Arsal den syrischen sunnitischen Kämpfern als Zufluchtsort, aber auch als Basis im Kampf um die Kalamun-Berge und um die Verbindung zwischen der Hauptstadt Damaskus, Homs und dem Norden des Landes. Während syrische Familien im Städtchen und seiner Umgebung Zuflucht fanden, ist das Gemeindegebiet im Gebirge – von den BewohnerInnen nur teilweise landwirtschaftlich genutzt, aber von einer Unzahl Steinbrüchen durchsetzt – ein idealer Rückzugsort für die Kämpfer.

Als in der ersten Hälfte dieses Jahrs das syrische Regime, unterstützt von libanesischen Schiiten der Hisbollahmiliz, gleich jenseits der Grenze eine Offensive startete, nahm der Flüchtlingsstrom weiter zu: 49 000 SyrerInnen waren in der Gemeinde mit nur 35 000 EinwohnerInnen registriert. Am 2. August verhaftete die libanesische Armee in Arsal einen Rebellenführer, worauf sich die Kämpfer des Islamischen Staats (IS) und der Al-Nusra-Front zusammenschlossen und die Stadt überrannten. Es folgten fünf Tage schwerer Kämpfe zwischen den syrischen Dschihadisten und der libanesischen Armee und Polizei. Dutzende von Toten, zerstörte Geschäfte und ausgebrannte Flüchtlingsquartiere waren die Folgen.

Dass etliche Flüchtlinge dieser libanesischen Falle, in die sie aus Syrien geraten waren, erneut entfliehen wollten, erstaunt kaum. Viele von ihnen waren zuvor innerhalb von Syrien mehrmals von Ort zu Ort geflüchtet, viele nur mit dem Allernötigsten; und die Versorgung im Libanon wurde zunehmend prekär. «Wir wollen heim nach Syrien», gaben sie libanesischen Medien zu Protokoll. «Wir wissen zwar nicht, was uns zu Hause erwartet, aber wir flohen nicht vor den Bomben dort, nur um hier erneut beschossen zu werden.»

Sie packten ihre Siebensachen auf Lastwagen und Pick-ups und fuhren am 7. August los – nicht auf dem inzwischen noch unsicherer gewordenen direkten Weg, auf dem sie gekommen waren, sondern über die Grenzstelle an der Strasse Beirut–Damaskus. Sie wurden begleitet von Schwester Agnès, einer griechisch-katholischen Nonne und streitbaren Verteidigerin des Assad-Regimes. Die Tochter eines palästinensischen Flüchtlings wuchs im Libanon auf und ist seit zwanzig Jahren Oberin des Klosters St. Jakob im syrischen Kara. Aus dieser Stadt stammt ein Grossteil der Vertriebenen in Arsal, wo sich das Kloster auch an den Hilfsleistungen für die Flüchtlinge beteiligt.

Auf den Flüchtlingskonvoi wurde die Öffentlichkeit erst aufmerksam, als er an der Grenze aufgehalten wurde, weil nicht alle 1700 RückkehrerInnen ordentliche Papiere hatten. Doch am 11. August kamen sie schliesslich in einem Vorort von Damaskus an und erhielten «angemessene Unterkünfte», wie Syriens Botschafter im Libanon damals versicherte – die Vermittlung von Schwester Agnès dürfte dabei hilfreich gewesen sein. Was aus den Zurückgekehrten geworden ist, lässt sich nicht feststellen. Dem UN-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR) fehlen die Möglichkeiten und Kapazitäten, die Menschen weiter im Auge zu behalten, sagt Dana Sleiman, UNHCR-Sprecherin in Beirut: «Je nachdem, wo die Leute letztlich hingingen, ist es dem UNHCR nicht möglich, sie aufzufinden, da es nicht im ganzen Land präsent ist.»

Im Libanon hat das UNHCR inzwischen über 1,1 Millionen syrische Flüchtlinge registriert – gegenüber einer Bevölkerung von rund vier Millionen LibanesInnen. Ein Trend zur Rückkehr ist nicht festzustellen, im Gegenteil: Die früher völlig offene Grenze ist zunehmend versperrt, und das zuvor übliche Hin und Her der Flüchtlinge ist schwieriger geworden.

Denn die Ereignisse von Anfang August in Arsal belasten das äusserst schwierige Verhältnis zwischen der libanesischen Bevölkerung und den syrischen «Gästen» sehr: IS und al-Nusra nahmen damals rund dreissig libanesische Soldaten und Polizisten als Geiseln. Um ihre Freilassung und einen Austausch mit Gefangenen im Libanon und in Syrien wird seither hart gefeilscht: Am 5. Dezember hat die Al-Nusra-Front eine ihrer Geiseln umgebracht, die vierte insgesamt; 25 Libanesen sind noch in der Hand der beiden Gruppen.

Während die libanesische Armee immer angestrengter und mit Verlusten versucht, die Gemeinde Arsal und deren Umgebung wieder unter ihre Kontrolle zu bringen, bilden sich in immer mehr Dörfern Milizen gegen die «syrische Gefahr». Laut Beiruter Büro der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) haben inzwischen 45 Gemeinden Ausgehverbote für SyrerInnen verhängt; Gemeindekräfte, aber auch private Gruppen verschaffen diesen Ausgangssperren Nachachtung. Bis Ende September hat HRW elf Fälle von gewalttätigen Angriffen auf SyrerInnen dokumentiert; MitarbeiterInnen verschiedener Hilfswerke wissen von zahlreichen weiteren Fällen. Nach der erwähnten Exekution einer Al-Nusra-Geisel wurden am 7. Dezember in einer Ortschaft im Nordlibanon die Unterkünfte von Flüchtlingen in Brand gesetzt, ein Kind wurde erschossen.

Eine schwierige Geschichte

«Es scheint, dass wir hier nicht willkommen sind», sagte ein Rückkehrer im Konvoi von Anfang August – und drückte sich damit höflich aus: Eigentlich mögen sich die beiden Nachbarn überhaupt nicht. Nicht ohne Grund: Der libanesische Bürgerkrieg (1975–1990) war für Syrien ein willkommener Anlass zur Besetzung des Landes gewesen, dessen Unabhängigkeit es nie anerkannt hatte. Von 1976 bis 2004 hatte Syrien im Libanon das Sagen, in der Politik wie im Alltag, der für viele LibanesInnen durch zahllose syrische Checkpoints geprägt war. «Fast dreissig Jahre lang haben uns die Syrer schikaniert», sagt eine junge Kommunikationsunternehmerin in Beirut, die diese Zeit als Kind miterlebt hat: «Tausende Libanesen wurden getötet, Tausende sind verschwunden. Es ist einfach, uns Rassismus vorzuwerfen, aber für uns ist es schwierig, diese Erfahrung zu vergessen.»

Nach der Ermordung des Multimilliardärs Rafik Hariri, der mit seinem Geld und als Ministerpräsident den Libanon zu einem eigenständigen und prosperierenden Land zu machen versuchte, gaben die internationale Gemeinschaft und viele LibanesInnen Syrien die Schuld am Attentat. Im Frühjahr 2005 schafften es die LibanesInnen mit Massendemonstrationen, die syrischen Besatzer aus dem Land zu vertreiben. Dabei war das Land damals (wie heute) gespalten: Dem Millionenaufmarsch gegen die Besatzung folgte eine Millionendemonstration zum Dank an Syrien. Seither sind die LibanesInnen wieder Herren im eigenen Land (wenn auch seit Ende Mai ohne Präsident und ohne ordentlich gewähltes Parlament) – und die Syrer hauptsächlich billige Arbeitskräfte im Bausektor und in der Landwirtschaft.

Pest oder Cholera

Als 2006 der Krieg zwischen der Hisbollah und Israel losbrach und die israelische Armee den Libanon grossteils in Schutt und Asche bombte, suchten viele LibanesInnen Zuflucht in Syrien. Nach 33 Tagen war dieser Krieg vorbei, und die Flüchtlinge kehrten zurück. Die neue syrische Massenpräsenz in Libanon dauert nun hingegen schon Jahre – und hat auch den syrischen Bürgerkrieg in den Libanon gebracht. Das wird in der libanesischen Öffentlichkeit deutlich stärker wahrgenommen als die Tatsache, dass in Syrien auf beiden Seiten libanesische Kämpfer mitmischen und sterben.

Der Widerstand gegen die neue syrische Präsenz nimmt zu. Wer weiss, vielleicht wird Schwester Agnès weitere Konvois von Rückkehrenden organisieren müssen. Die Frage, ob die Rückkehr freiwillig erfolgt, ist eine schwierige: Die Entscheidung zwischen Pest und Cholera ist immer falsch.

* Wunsch von ungenannt: «Findet heraus, ob die 
1700 Flüchtlinge von Arsal 
freiwillig nach Syrien zurückgekehrt
 sind.»