An der Heavy-Metal-Plattenbörse in Zofingen: Reiner Trotz aus rund gepresstem Polyvinylchlorid
Heavy Metal war in den späten siebziger und frühen achtziger Jahren der Sound vieler aufmüpfiger Büezerkinder auf dem Lande. Und heute? – Eine Reportage von der Metalplattenbörse in Zofingen.
Es ist merkwürdig still an diesem Samstagmorgen in der grossen, leeren Garderobe des Mehrzweckgebäudes; nur wer die Ohren spitzt, hört ein Gesummse vom anderen Ende des Raums, wo die Tür zum Stadtsaal offen steht.
Kaum ist sie durchschritten, ändert sich schlagartig alles: Tageslicht aus grossen Fenstern, überall Bewegung, ein dichtes Gewirr aus Stimmen, Hunderte von Händen, die sich hastig durch Plattenkisten arbeiten – und Hardrock, der von unsichtbaren Lautsprechern in den Raum gedampft wird. Abertausende von LPs und Singles stehen zum Kauf bereit, die allermeisten gebraucht, nicht immer in tadellosem Zustand, meist aber gepflegt und mit Sorgfalt weitergegeben. Objekte, die einfach nicht verschwinden wollen; der reine Trotz aus rund gepresstem Polyvinylchlorid.
Zofingen. Hier, wo der Aargau nahtlos in den Kanton Luzern übergeht, trifft sich die Heavy-Metal-Szene seit siebzehn Jahren alljährlich zur Plattenbörse. Folterturm, Pulverturm, Münzturm: Wie gemacht scheint das Städtchen für einen solchen Anlass, mit seinen mittelalterlichen Gebäuden, aus denen akribisch alle Geschichte herausrenoviert worden ist.
Man hat es gern sauber im schmucken Städtchen. Und still. Das alternative Kulturzentrum OX, seit 1982 im Gasthof Zum Goldenen Ochsen installiert, musste deshalb kürzlich die Segel streichen: Die jahrelange Prozessiererei von AnwohnerInnen hat die BetreiberInnen mürbe gemacht. Konzerte mit Schallpegellimiter direkt am Verstärker – so kann keine vernünftige Rockmusik gespielt werden. Das etwas ausserhalb gelegene Jugendzentrum Planet Z ist der neue Veranstaltungsort für Livemusik. Rockmusik, fast überall auf der Welt Teil einer umfassenden Alltagskultur, gehört nun also in den Bereich behördlich begleiteter Jugendarbeit. Wie überall in der Schweiz schreiben auch hier längst Gesetze vor, wie weit die Lautstärkeregler nach rechts gedreht werden dürfen, auf Konzerten genauso wie in Clubs. In der Heavy-Metal-Parodie «This Is Spinal Tap» aus dem Jahr 1984, der filmischen Biografie einer fiktiven, alle Klischees in sich vereinenden Metalband, gehen die Volume-Regler an den Gitarrenverstärkern noch bis 11, weil: «11, that’s 1 more than 10!» Gute alte laute Zeiten.
Aus analogen Zeiten
Es ist das Wochenende der Abstimmung über die Ecopop-Initiative. Alle medialen Kanäle sind zum Bersten voll mit diesem Thema, es wird überall leidenschaftlich diskutiert. Nicht so auf der Plattenbörse. Müde winken alle ab, Politik interessiere hier keinen. Bloss einer, ein Riese im weissen Pulli, antwortet mit ruhiger Stimme, dass er selbstverständlich ein Ja einlegen werde. Dann reisst auch er sich gleich wieder los und hastet zum nächsten Stand.
Die BesucherInnen sind hoch konzentriert. Niemand möchte in der Hektik etwas überblättern. Trifft der Blick auf eine interessante Scheibe, wird sie blitzschnell herausgezogen und eingehend geprüft: Zustand und Pressung bestimmen den Wert. Ellbogen an Ellbogen grasen die SammlerInnen das Sortiment ab, wandern von einem Vinylblätz zum nächsten. Die nicht selten wuchtigen Leiber schieben sich sorgfältig aneinander vorbei, von Heavy-Metal-Dichtestress kann keine Rede sein. Die Stimmung ist angespannt und doch freundlich – die gemeinsame Jagd verbindet eher, als dass sie trennt. Die Aufnäher auf den Jeans- und Lederjacken bilden dazu ein ordentliches Kachelmuster: Cirith Ungol, Metallica, Slayer, Venom, Motörhead und nochmals Motörhead, Satan oder Saint Vitus – die Lieblingsbands halt, die man zur Schau stellt. Patronengurte, Nietenarmbänder, es hat sich in den letzten Jahrzehnten in der Kleiderordnung wenig geändert.
Zwei Stunden noch bis zur Mittagszeit. Im trüben Novemberlicht steht ein Grüppchen Raucher schweigend auf dem Parkplatz vor dem Mehrzweckgebäude, jeder blickt in eine andere Richtung. Hinter ihnen ein glasgeschützter Aushang, der auf bevorstehende Veranstaltungen im Stadtsaal hinweist. Klein und verloren wirkt der zweifarbige Flyer, der für die Plattenbörse wirbt, grossformatig und bunt kommen die anderen Plakate daher. Ein Gospelabend wird angekündigt oder eine «musikalische Winterreise» von Michael von der Heide, der trällernden Freitag-Tasche aus Zürich. Auch die Versammlungen des EinwohnerInnenrats finden hier jeweils statt, an denen über Einbürgerungsgesuche entschieden wird; vergleichsweise liberal, was Zofingen in gewissen Kreisen den Ruf einer «Durchwinkergemeinde» eingebracht hat.
Beflissen eilen die VerkäuferInnen derweil im Saal hinter den Mehrzwecktischen hin und her, beantworten Fragen, schütteln manchmal entschieden den Kopf. Es wird gefeilscht, das gehört zum guten Ton, doch es ist Vorsicht geboten, denn zumeist sind die VinyldealerInnen selber auch SammlerInnen. Einen zu tief angesetzten Preis könnten sie als Beleidigung verstehen, und damit hätte man als Käufer den Verhandlungsspielraum auf immer geschlossen.
Es ist ein sorgfältig austariertes Spiel. Der Preis muss am Ende für beide stimmen, und im Idealfall werden beide der Meinung sein, das Maximum herausgeholt zu haben. Nur selten sind gezückte Smartphones zu sehen, mit deren Hilfe auf einschlägigen Websites die Preise verglichen werden können. Noch gilt das hier als unfreundlich. Man ist der digitalen Welt gegenüber skeptisch, möchte das Kaufen und Verkaufen von Objekten aus dem analogen Zeitalter gerne so halten, wie es früher einmal war. Ein inszenierter Marktplatz aus einer Zeit, die nicht mehr wiederkommt. Das Haar wird meist lang getragen, auch wenn es sich lichtet und grau wird.
Vor allem Männer sind zu sehen, die eine Altersgruppe dürfte hauptsächlich um die zwanzig, die andere um die fünfzig sein. Wer hier nach der Ausnahme vom Klischee sucht, wird kaum fündig werden. Wobei: «Natürlich gibt es hier auch Frauen», meint die Verkäuferin Silvia Moresi lachend auf meine Feststellung, die Frauenquote in diesem Raum tendiere gegen null, «man muss halt genau hinschauen!»
«Früher war das alles rebellischer»
Der Raum füllt sich weiter, auch die Cafeteria ist nun gut belegt. Man müsste es so beschreiben: Die Aktivität ist aus dem grossen Stadtsaal bedächtig herausgewachsen. Zwischen Schinkensandwiches und Kaffee werden die Plattenkäufe wie Trophäen herumgereicht. Verschiedene Pressungen werden verglichen, Zustände von Vinyl und Cover so fachmännisch wie zärtlich geprüft. Über die Preise der Raritäten spricht man so wenig wie auf der Arbeit über den Lohn; kaum einer rückt damit heraus, was er an Geld hingeblättert hat – für ein rares Black-Metal-Album von Darkthrone, einen Judas-Priest-Bootleg oder die Single der Pentagram Chile, die er schon ewig gesucht hat.
Man kennt sich. «Es gibt Händler, die verkaufen bloss auf Börsen und nicht übers Internet, obschon sich das lohnen würde», sagt Silvia Moresi. «Sie wollen ihre Kunden sehen. Für die Mehrzahl ist das nicht nur eine Plattenbörse. Viele haben Familie, arbeiten in der Fabrik, auf dem Bau oder im Büro, irgendwo unter Normalos. Solche Treffen sind wie kurze Ferien.»
Edi Bagnoli, 46 Jahre alt, arbeitet unter der Woche als DVD-Verkäufer in einem kleinen Shop in Zürich. Ich kenne ihn, wie viele hier, seit vielen Jahren. Die Geschäfte gehen schlechter als auch schon, sagt er. «Das Herunterladen aus dem Internet macht alles kaputt. Filme wie Musik sind Teil einer Gratiskultur geworden.» Er hat seine beiden Kinder bei sich. Die Tochter Jana, 21 Jahre alt, interessiert sich nicht sonderlich für die Szene; sie ist mitgekommen, weil sie seit kurzem ein eigenes Auto besitzt und gerne damit fährt. Der Sohn Dario aber, drei Jahre jünger, spielt in einer Metalband. Seine Maturarbeit schreibt er über den sogenannten Loudness War. Die Hauptthese: Der Sound heutiger Rockbands unterscheidet sich ganz wesentlich von dem aus analogen Zeiten. «Mit dem digitalen Mastering werden alle Instrumente nach vorne gedrückt, es entsteht ein sehr lauter Gesamtsound, der auch in die Werbung Einzug gehalten hat, weil er dominanter wirkt», erhitzt er sich. «Der Sound auf diesen alten Metalplatten hier ist aber total anders. Wärmer, individueller, geheimnisvoller.»
Silvia Moresi, heute 52 Jahre alt, freut sich, dass die Kundschaft sich verjüngt. Nicht weil sie mit ihrem Stand etwas verdienen würde. Seit es die Heavy-Metal-Plattenbörse gibt, ist sie dabei, in diesem Jahr zum 18. Mal. Sie ist froh, wenn sie ihre Auslagen wieder reinholen kann. Unweit von ihr hat sich ein weiterer Händler mit seinem Sortiment aufgepflanzt, René Freiburghaus. Auch er sieht die Zeichen der Zeit. In den letzten vier Jahren seien die CD-Umsätze in seinem Laden um dreissig Prozent zurückgegangen. Die Nachfrage nach Vinyl aber steige. «Vinyl ist Teil der Kulturschickeria geworden, ein Statussymbol. Darum bringen die Labels auch jede Platte in zig verschiedenen Formen heraus, farbig, als Picture Disc, Boxset, limitierte Spezialedition – der totale Overkill!» Vom Schallplattenhandel allein kann er nicht leben, er ist auf einen Nebenjob angewiesen. «Früher war das alles rebellischer, heute ist es nur noch Kommerz.» Er ist hin- und hergerissen zwischen seinen zwei Rollen, der des Händlers und der des Fans: Sein auf Metal spezialisiertes Plattengeschäft heisst «Outsider».
Krach auf dem Land
Rebellion: gegen die SpiessbürgerInnen, gegen die Normgesellschaft, irgendwie gegen alles und nichts zugleich. Bei Freiburghaus führte das 1996 dazu, dass die Polizei Dutzende CDs von rechtsextremen Bands in seinem früheren Laden Music Arena Shop beschlagnahmte und nach Abschluss des Verfahrens vernichtete. Freiburghaus wurde wegen Verstoss gegen die Antirassismus-Strafnorm angeklagt, später allerdings davon freigesprochen. «Das war ein Seich, ein richtiger Seich», meint er heute. «Diese ganze Politscheisse hat sich Stück um Stück hineingefressen in die Musik und auch in die Köpfe. Es war falsch, solche CDs zum Verkauf anzubieten. Das Zeug lief halt gut, es gab eine starke Nachfrage. Jeder wusste, die Alben stehen auf dem Index. Es war irgendwie rebellisch, so was zu haben. Aber heute? Politik und Kultur, das geht für mich nicht zusammen.»
Das Gespräch wird unterbrochen. Ein Mann beugt sich über die Plattenkiste: «Hast du Teutonen-Metal?» Teutonen-Metal, Kelten-Metal, Wikinger-Metal, Pagan Metal – völkisch eingefärbter, pseudohistorischer Mythenkitsch steht dieser Tage hoch im Kurs. Kein Thema zu entlegen, als dass sich nicht eine kleine Fangemeinde mit ihren eigenen Bands darum scharte. Doch das Genre hat sich nicht bloss in eine kaum mehr überschaubare Nischenvielfalt aufgefächert, längst ist es zu einer tragenden Säule des gesamten Musikmarkts geworden. Auch dank des Merchandisings, das den Grossen im Geschäft traumhafte Umsätze beschert. Die Identifikation der Fans mit ihrer Musik geht hier so weit wie nirgends sonst: T-Shirts, Pullover, Hosen, Unterhosen, Babykleidung, Jacken, Mützen, Aufnäher, DVDs, Taschen, Schmuck, Tassen – alles gibt es zu kaufen, mit dem Logo der jeweiligen Band versehen, einiges davon auch im Stadtsaal.
«Am Anfang, so um 1980 herum, waren wir einfach gegen alles», so René Freiburghaus. Verschiedene Fraktionen hätten sich im Heavy Metal erst mit der Zeit herausgebildet, auch politische.
1980 war die letzte grosse Zeit der Generationenkonflikte. Vieles brach auf, befeuert nicht zuletzt durch die Musik. Immer schneller wurde gespielt, immer härter, immer aggressiver. Verschiedene Jugendbewegungen, voneinander strikt getrennt durch allerlei Formen der Abgrenzung, arbeiteten sich gemeinsam ab an – woran eigentlich?
Im Nachhinein könnte man sagen: an der Schweiz des Kalten Kriegs, an den Spätfolgen der geistigen Landesverteidigung. Dieser Igelmentalität, die kultur- und gesellschaftspolitisch heute verschwunden ist, aber ungeheuer zäh immer noch die aussenpolitischen Debatten lenkt. Doch wer hätte das damals schon so verstanden?
Damals, das war die Zeit der Verbote, öffentliche Grünflächen zu betreten, und der Bars, die um Mitternacht dichtmachten. Die Aufbruchzeit der späten sechziger Jahre, vor allem die Polit- und Intellektuellendebatten, hatten längst nicht alle Milieus erfasst – schon gar nicht in den ländlichen Gegenden.
Herisau zum Beispiel. Die heftige, zugleich aber unausgesprochene Ablehnung gegen die junge Lehrerin, die uns SechstklässlerInnen als Stellvertreterin vorübergehend unterrichtete, ist mir bis heute gut im Gedächtnis geblieben. Jeden Morgen pendelte sie vom städtischen St. Gallen die zehn Zugminuten hoch in den voralpinen Halbkantonshauptort, in ihrer Strickjacke – und mit engen Jeans.
Ein Hippie! Ende der siebziger Jahre war das ein Reizwort, für Eltern gleichermassen wie für die meisten SchülerInnen. Gerüchte machten die Runde, wir SchülerInnen verstanden das als Freipass. Die Dinge liefen aus dem Ruder, man zog sie bald ab und ersetzte sie sang- und klanglos durch einen blassen, verbrauchten, bereits pensionierten Lehrer. Niemand regte sich auf, auch ich nicht.
Die Empörung kam erst, als wenige Tage später der Formel-1-Rennfahrer Clay Regazzoni, damals ein Star, im Café gegenüber vom Schulhaus eine Autogrammstunde gab. Die Schulleitung verbot nicht bloss kategorisch den Besuch der Veranstaltung, für die einzig ein Fussgängerstreifen zu überqueren gewesen wäre – die Lehrer standen sogar Wache vor dem Schulhaus. Im Schallplattenladen, der direkt neben dem an diesem Tag unerreichbaren Café lag, hing die neue AC/DC-LP im Schaufenster: «Highway to Hell». Ein Bild, das sich eingebrannt hat und mit dem sich immer noch eine Empörung verbindet, so läppisch der Anlass auch gewesen ist.
Töffli frisieren, Prügeleien, Black Sabbath
Der Heavy Metal hat in der Schweiz das Kaff nie verlassen. Das gilt auch im übertragenen Sinn, etwa wenn Chris von Rohr, der bekannteste Vertreter des Genres, sich öffentlich zu politischen Fragen äussert. Es scheint, als ob die ländliche Schweiz – diese medial unter stetem Hochdruck geschmiedete Fiktion – ihre zweite musikalische Heimat, nach der Schlager- und Volksmusik, mittlerweile im Hardrock und Metal gefunden hat.
Das war nicht immer so. Metal war – und ist es vielleicht immer noch – Büezermusik. Und im Gegensatz zum Punk, der eher in den Städten blühte, blieb der Metal mehrheitlich auf dem Land und in der Agglo. Als mit der Jugendbewegung 1980 die Spannungen explodierten, dehnten sich die Schockwellen weit über die grossen städtischen Zentren aus. Unsichtbar, von keiner Geschichtsschreibung aufgezeichnet, erfassten sie Einzelne, ohne Kollektive zu bilden. In den Dörfern und Kleinstädten bildeten sich keine Inseln heraus, es wurden keine Häuser besetzt, undenkbar zu demonstrieren, es fanden so gut wie keine Konzerte statt. Töffli frisieren, Schlägereien im Suff, Joints, die im Kreis kursierten, während man Black Sabbath hörte – selten ging es weiter. Kleine Fluchten, fürwahr.
Vielleicht war das Politische darin das Fehlen von Politik. Es tat sich ein Riss auf, die Welt der Elterngeneration rückte einem vom Leib. Plötzlich war überall diese Gier nach neuer, eigener Musik, nach Aufregung, nach dem Kick, wie ihn manchmal bloss eine verzerrte Gitarre und ein schneller Beat liefern können – und viel ausgeprägter als in städtischen Gebieten der massive Widerstand der Alten dagegen. Die Musik setzte den Takt dazu. Bässe und Gitarren wie aus einem Guss, mit jeder neuen Platte dachte man, nun seien die Extreme aber endgültig ausgelotet, noch schneller könne kein Mensch spielen – dabei hatte man erst gerade angefangen, die Grenzen zu verschieben.
Und dann die betörenden, englischsprachigen Stimmen, die einen dazu brachten, sich einen kleinen Langenscheidt zu kaufen, verstehen zu wollen, was die Texte und Titel und Bandnamen überhaupt bedeuten mochten. Man war Musikfan der Musik wegen – und Musik, das war ein Äther, der alles umschloss, aufregend und doch flüchtig (auch wenn man sich Jahrzehnte später auf Plattenbörsen wieder treffen sollte).
Dem Punk, einst der grosse Gegenspieler in der Welt der lauten Gitarren, ist es in den vergangenen Jahren gelungen, eine erstaunliche öffentliche Wertschätzung zu erringen, begleitet von einer Flut an Buchpublikationen, Dokumentarfilmen und Ausstellungen. Politisch sei er gewesen, heisst es, ästhetisch relevant, die letzte subkulturelle Grossrebellion, bevor der Kommerz und die Beliebigkeit alles unter sich begraben hätten. Alle wollen sie heute einmal Punks gewesen sein – niemand aber ein Metaller.
Silvia Moresi trat 1980, da war sie achtzehn Jahre alt, ihre erste Stelle nach der Lehre an. Im Bro Records in St. Gallen, einer der ersten Adressen für harte Gitarrenmusik, mit einer weit ins Land reichenden Strahlkraft. «Der Gang vom Bahnhof durch die Stadt war manchmal unangenehm, so als Frau mit Patronengurt, Nietenarmbändern, den schwarzen Band-T-Shirts und der Lederjacke», erinnert sich Moresi.
Der Bro war ein eigentliches Refugium. Die Schaufenster mit schwarzer Farbe zugepinselt, schwarz der Fussboden, die Plattenregale schwarz, und drinnen wurde geraucht, dass man kaum die Hände vor Augen sah. Aus den vom Inhaber selbst gebauten Lautsprechern dröhnten von früh bis spät Iron Maiden, Saxon oder auch die Dead Kennedys.
Übernächtigt zur letzten Schulstunde
Noch einmal: War das politisch, irgendwie? Silvia zuckt mit den Schultern. Und wie war das für sie als Frau, allein auf weiter Flur, hatte sie es schwerer als andere? «Härter war es für mich nicht, nein. Ich war einfach die einzige.» Sie lacht – und erzählt, wie sie 1978 eine Unterschriftensammlung an der Sekundarschule in einem verschlafenen Nest im Rheintal organisierte. Status Quo sollten in Bern spielen, ihre Lieblingsband damals. Rockkonzerte waren, anders als heute, ein richtiges Ereignis. «Der Gig war an einem Freitagabend, und am Samstagvormittag ging die Schule früh los. Wir mussten also was tun, wenn wir nach Bern fahren wollten. Die Eltern haben nach einigem Bedenken zugesagt. Klar, ich war knapp sechzehn, das einzige Mädchen in der Clique!» Die Lehrer hingegen wollten nichts davon wissen. «Also sammelten wir Unterschriften, bis man uns den Besuch des Konzerts offiziell erlaubte. Wir sagten: entweder so oder so. Wir gehen sowieso.»
So machte sich Silvia zusammen mit vierzehn gleichaltrigen Jungs auf nach Bern. Aufgeregt erzählt sie: «Wir flippten total aus, es war so geil! Und wir kauften alles, was es zu kaufen gab. Status-Quo-T-Shirts, Poster und so weiter, und natürlich verpassten wir den Zug. Wir schliefen, in unsere neuen Leibchen gesteckt, am Hauptbahnhof und nahmen den ersten Zug in der Früh, reisten durch die halbe Schweiz zurück und schafften es wie abgemacht noch in die letzte Schulstunde, übernächtigt und glücklich.» Ihre Schwester Doris, die ein paar Schritte entfernt steht, faltet derweil die T-Shirts neu und legt sie wieder ordentlich aus. Riot, Angel Witch, Samson – die Leibchen, die Silvia Moresi damals gekauft hat und die sie nun für zwanzig Franken das Stück verkauft.
Im Stadtsaal von Zofingen haben sich die Vinylreihen mittlerweile gelichtet. Altes hat einen neuen Platz gefunden, und ich habe eine Mitfahrgelegenheit ergattert. Nicht mehr lange, und es wird dunkel. Zu fünft quetschen wir uns in Jana Bagnolis kleines, schwarzes, aufgemotztes Auto. Getönte Scheiben, ein Subwoofer, der still im Heck schlummert. Vier Männer, aber keiner kann Auto fahren, drei davon zwängen sich auf die enge Hinterbank. Etwas verkrampft sitzen alle da, pralle Einkaufstüten mit Heavy-Metal-LPs auf den Knien. Nicht mal eine Stunde Fahrt zurück nach Zürich. Der Autolärm erstickt bald die Gespräche. Durch die Frontscheibe sind die endlosen weissen Seitenbänder zu sehen, und in scharfem Kontrast dazu die rasend schnell aufblitzenden Striche der glattgebügelten Fahrbahn. Der Blick aus dem Seitenfenster zeigt den einförmigen, ebenso scheinbar endlosen Siedlungsbrei des Mittellandes, der seine Fäden von Ost nach West zieht. Musik wird im Auto keine gespielt, nur das Navigationsgerät gibt dann und wann Laut.
Der Historiker Erich Keller (46) war in seiner Jugend in Herisau und St. Gallen selbst ein passionierter Schwermetaller. 1986 bis 1988 war er Sänger der Grindcoreband Fear of God. Heute betreibt er den Punk- und Hardcoreblog www.goodbadmusic.com.