Editorial: Aus dem Off – an den Rändern des Kinos

Nr. 4 –

Adélaïde Leroux in «Home» (CH 2008). Regie: Ursula Meier. Bild: Jerome Prebois, Filmcoopi

Die junge Frau auf unserem Cover hat schon recht mit ihrem ausgestreckten Mittelfinger. Die Autobahn neben ihrem Haus hat 
nun wirklich nichts anderes verdient. In Ursula Meiers Drama «Home» (2008), aus dem dieses ikonische Bild stammt, ist es ja wie überhaupt 
in der Filmkunst: Das Aufregende passiert meist am Rand, abseits 
der Hauptverkehrsachsen, ausserhalb der Leitplanken. 

Darum begeben wir uns in dieser Filmbeilage an die Ränder des Kinos. Dorthin, wo abseitige Dinge passieren, die dem Film neue Impulse geben. Wo unschätzbare Arbeit geleistet wird, die die meisten von uns gar nicht wahrnehmen. Oder wo Stimmen aus dem Off ganze Welten erschliessen.

Wir besuchen Orte, von denen wir noch nie gehört haben, und lernen Menschen kennen, die das Unmögliche versuchen. Oder solche, die sich zeitlebens an der Peripherie bewegten und dabei Filme schufen, die längst wie Findlinge in der Landschaft stehen. Wie der Bündner Filmemacher Christian Schocher, der mit seiner schwarzweissen Odyssee «Reisender Krieger» (1981) gerade eine neue Generation 
von CineastInnen inspiriert. Wir erinnern aber auch an Figuren wie 
Max Castle, diesen fast vergessenen Meister des Bösen, der als ominöse Randgestalt in Hollywood zum Kultregisseur wurde.

Dazwischen fragen wir etwa, wie man einen Film erzählen muss, damit ihn auch Sehbehinderte vor Augen haben. Das ist die hohe Kunst der Audiodeskription, die beim Schweizer Fernsehen neuerdings auch auf Mundart ausgestrahlt wird. Und wir zeigen, was es für das filmische Erbe der Schweiz bedeutet, dass die Digitalisierung die guten alten Filmrollen verdrängt. Die Serie von Stills aus der Filmgeschichte, die unser Fotoredaktor Andreas Bodmer zusammengestellt hat, zeigt 
dabei Figuren, die buchstäblich oder im übertragenen Sinn am Rand stehen (oder auch liegen, im Fall von Charlie Chaplin oder Ludivine Sagnier).

So schicken wir von den Rändern auch unsere Glückwünsche nach Solothurn im Herzen des Schweizer Mittellands, wo die Filmtage heuer ihr 50-Jahr-Jubiläum feiern. Und wer angesichts der Fülle des Programms in Solothurn an den Rand des Wahnsinns gerät, findet 
in dieser Beilage einen kleinen filmkritischen Wegweiser mit etlichen Empfehlungen zwischen Kunst und Raserei (wobei das manchmal
 dasselbe ist).

Judith übrigens, das Mädchen, das in «Home» den Stinkefinger ausfährt, hält es irgendwann nicht mehr aus am Rand. Sie nimmt Reissaus von daheim, in einem Sportwagen. So eine Autobahn ist eben doch 
für etwas gut.