«Indien. Ein Land und seine Widersprüche»: «Im Griff der Ungleichheit»

Nr. 4 –

Indien gilt als Wirtschaftsmacht – und fast die Hälfte der Bevölkerung lebt in Armut. Warum ist das so, und wie könnte es anders gehen?

Der Zweikampf zwischen Indien und China, den beiden bevölkerungsreichsten Staaten der Welt: Er wird nicht nur immer öfter geopolitisch, sondern schon länger auch wirtschaftlich und entwicklungspolitisch heraufbeschworen. Da glänzte China lange mit raschem Wirtschaftswachstum und trug entscheidend dazu bei, dass das wichtige Millenniumsentwicklungsziel der «Bekämpfung von extremer Armut» in globaler Hinsicht erreicht worden ist. Doch schon bald könnte Indien die Volksrepublik punkto Wirtschaftswachstum überholen. Eine neue Studie der Weltbank prognostiziert diesen Zeitpunkt auf 2017 – bis dann soll Indiens Wirtschaftsleistung jährlich um sieben Prozent zunehmen.

Wird dieser Wachstumsschub nicht nur Indiens Image als kommende wirtschaftliche Supermacht beflügeln, sondern auch die riesigen sozialen Probleme lösen? Eine mögliche fundierte Antwort darauf gibt ein neues Buch der indischen Entwicklungsökonomen Jean Drèze und Amartya Sen. «Indien. Ein Land und seine Widersprüche» ist dabei zu einem Teil ein Update des früheren Gemeinschaftswerks «India. Economic Development and Social Opportunity» (2002), das aber nicht ins Deutsche übersetzt worden war.

Mehr Wachstum, mehr Hungernde

Sen und Drèze sind beide gleichzeitig Theoretiker, Empiriker und nicht zuletzt Praktiker – und sie ergänzen sich ideal. Sen, der Wirtschaftsnobelpreisträger von 1998, ist auch ein Gerechtigkeitsphilosoph, der hinter dem von der Uno verwendeten Index für menschliche Entwicklung steht (was eine Abkehr von rein wirtschaftlich gemessener Entwicklung bedeutete). Drèze, ein gebürtiger Belgier, ist stark in den sozialen Bewegungen Indiens verwurzelt und hatte das Konzept für ein nationales indisches Gesetz ausgearbeitet, das seit 2005 der ländlichen Bevölkerung ein Recht auf Arbeit und eine soziale Absicherung garantiert.

Seit der Jahrtausendwende ist Indiens Wirtschaftsleistung bereits beträchtlich rascher gewachsen als je zuvor. Trotzdem, so Drèze und Sen im neuen Buch, habe dies im Gegensatz zu China kaum Auswirkungen auf die Einkommensverhältnisse, geschweige denn die Verwirklichungschancen der ärmsten Bevölkerungsschichten gehabt. In Indien stagnieren die durchschnittlichen Reallöhne trotz höherer Wertschöpfung, während sie in China seit über zwanzig Jahren massiv angestiegen sind. Noch immer lebt von allen Menschen der Welt, die nach offizieller Definition als extrem arm gelten, ein Drittel in Indien. Noch immer sind in Indien über vierzig Prozent aller Kinder unter fünf Jahren unterernährt (in Afrika südlich der Sahara beträgt dieser Wert zwanzig Prozent) – hier sind gar Rückschritte zu verzeichnen.

Dass die politische Elite Indiens das rasche Wachstum und die dadurch erzielten öffentlichen Einnahmen nicht sinnvoll und im Sinn benachteiligter Bevölkerungsschichten verwendet hat, ist der Hauptvorwurf von Drèze und Sen. Insbesondere habe es Indien seit der Unabhängigkeit (zuvor herrschte aufgrund der Kolonialpolitik Null- oder gar Negativwachstum) verpasst, die staatlichen Mittel in die öffentliche Infrastruktur und Versorgung zu investieren, nicht zuletzt in das Bildungs- und das Gesundheitswesen. Beides wird mehrheitlich privaten Anbietern überlassen.

Was Bangladesch besser macht

Indien bleibe dabei «im Griff der Ungleichheit», wie es eine Kapitelüberschrift ausdrückt: Hier finde man «ein einzigartiges Gemisch tödlicher Spaltungen und Disparitäten». Die wirtschaftlichen Ungleichheiten (in offiziellen Statistiken stark unterschätzt) würden durch «riesige kasten-, klassen- und geschlechterspezifische Disparitäten» verstärkt und perpetuiert. Im Gegensatz zu China fehlt es Indiens Unterschicht an den grundlegendsten Mitteln für ein menschenwürdiges Leben.

In sozialer Hinsicht ist besonders ein regionaler Vergleich beeindruckend: Obwohl Nachbarländer wie Nepal und Bangladesch deutlich weniger Wirtschaftswachstum aufweisen, schneiden sie bei fast allen sozialen Indikatoren deutlich besser ab, besonders bei Bildung, Gesundheit und den sanitären Einrichtungen. Es sind Bereiche, in denen die Nachbarstaaten eine öffentliche Grundversorgung aufgebaut haben. Und dann gibt es die innerindischen Vergleiche, die aufzeigen, was in fortschrittlichen südlichen Bundesstaaten wie Kerala und Tamil Nadu möglich ist.

Aus dieser fruchtbaren Zusammenarbeit ist ein umfassendes, wichtiges Buch entstanden, das eine tiefgreifende Analyse mit anschaulichen Beispielen und zukunftsweisenden Handlungsoptionen verbindet. Aufgrund der ausbeuterischen Kolonialvergangenheit hüten sich die Autoren vor allzu hohen Erwartungen. Doch man merkt, dass sie im Zuge der wirtschaftlichen Sprünge der letzten Jahre ungeduldig geworden sind und endlich Fortschritte auf sozialer Ebene fordern. Sie glauben dabei an die Kraft der sozialen Bewegungen, an die Möglichkeiten der Demokratie – und sie nehmen den Staat in die Pflicht.

Doch hier liegt eine der wenigen Schwächen des Werks: So sehr es die Probleme benennt und Lösungen entwickelt, so sehr fehlt eine realpolitische Dimension. Wie soll all dies ins indische Politiksystem eingespeist werden? Schliesslich sind ja bisherige Entwicklungsanliegen – Demokratie hin oder her – nicht oder nur bruchstückhaft umgesetzt worden. Da bleibt nur zu hoffen, dass auch Indiens Politelite das Buch eingehend studieren wird.

Jean Drèze und Amartya Sen: Indien. Ein Land und seine Widersprüche. Aus dem Englischen von Thomas Atzert und Andreas Wirthensohn. Verlag C. H. Beck. München 2014. 376 Seiten. Fr. 43.50