Indien: Demokratie ohne grossen Widerspruch
Indiens übermächtiger Ministerpräsident Narendra Modi duldet keine Kritik. Das trifft derzeit vor allem nichtstaatliche Organisationen, die er zu Tausenden kaltstellt.
Seit einem Jahr ist Narendra Modi Ministerpräsident, und seine bisherige Regierungsbilanz macht viele InderInnen wütend. Selbst ParteifreundInnen geben zuweilen zu, dass Modi praktisch keines seiner grossen Wahlversprechen eingelöst hat. Etwa das, sein wirtschaftliches Entwicklungsmodell, das Modi als Regierungschef des Bundesstaats Gujarat eingeführt hatte, auf ganz Indien zu übertragen: In Gujarat hatte er die Unternehmenssteuern gesenkt, Firmen mit Zuschüssen und billigem Land bedient und die Strompreise für Grossabnehmer verbilligt. Nun aber treibt eine grosse Landwirtschaftskrise jeden Tag ein Dutzend BäuerInnen in den Selbstmord, die Arbeitslosigkeit nimmt zu, die Produktion und die Exporte stagnieren, die Rupie hat stark an Wert verloren, und der indische Aktienmarkt liegt darnieder.
Greenpeace-Konten gesperrt
Auf politischer Ebene hat der Rechtsnationalist praktisch alle Macht auf sich konzentriert. Es ist kein Zufall, dass alle von der «Modi-Regierung» sprechen und nicht etwa von der «NDA-Regierung». Dabei ist es das Parteienbündnis Nationale Demokratische Allianz (NDA), das die Regierung stellt. In diesem Prozess der Machtballung versucht Modi, nicht nur die Oppositionsparteien im Parlament zu isolieren, sondern sogar die eigenen ParteifreundInnen von der hindunationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP). Und er wendet sich rigoros gegen KritikerInnen aus der Zivilgesellschaft.
Bisher hat das Innenministerium, bei dem rund 45 000 nichtstaatliche Organisationen (NGO) angemeldet sind, über 10 000 von ihnen die Lizenz entzogen. Die Bankkonten von 34 Organisationen wurden eingefroren, und 69 dürfen keine ausländischen Gelder mehr entgegennehmen. Nächstes Jahr sollen die Lizenzen von rund 16 000 weiteren NGOs überprüft werden.
Für oder gegen Entwicklung?
Ein prominentes Opfer ist der indische Ableger der internationalen Umweltorganisation Greenpeace. Dessen Lizenz wurde im April zwar erst provisorisch suspendiert, aber die Bankkonten und der Zugang zu ausländischem Geld wurden Greenpeace gesperrt. Im Juni kann die NGO deshalb keine Löhne mehr bezahlen. Über 200 Angestellte haben sich letzten Donnerstag bereit erklärt, mindestens einen Monat ohne Lohn weiterzuarbeiten. Auch Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder die heimische Volksunion für bürgerliche Freiheiten sind betroffen.
Dabei nimmt das Innenministerium besonders Organisationen ins Visier, die Modis politische Projekte infrage stellen. So will er mit einer Gesetzesänderung Landenteignungen vereinfachen. Oppositionelle und AktivistInnen befürchten, dass unter dem Vorwand wirtschaftlicher Entwicklung vor allem KleinbäuerInnen und Arme enteignet würden – zum Vorteil nationaler und internationaler Konzerne.
Schon im letzten Juni, kurz nach Modis Amtsantritt, schürte der indische Inlandgeheimdienst die Stimmung gegen unabhängige Organisationen. Er vertrat die These, dass «auslandsfinanzierte NGOs» wie Amnesty oder Greenpeace India «Entwicklungsprojekte blockieren» würden: In Bereichen wie der Atomenergie oder der Palmölproduktion würden diese NGOs die Bevölkerung aufhetzen, was «ausländischen Regierungsinteressen» nütze und das indische Wirtschaftswachstum um jährlich zwei bis drei Prozent reduziere. Greenpeace und mehrere indische NGOs wehrten sich gegen die Anschuldigungen. Sie beschuldigten die Regierung im Gegenzug, dass sie um jeden Preis verschiedenste Industrialisierungsprojekte durchziehen wolle und dabei Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörungen in Kauf nehme.
Mittlerweile reden sich in Indiens Elite viele ein, das Land sei nun bald eine Supermacht, in der Armut und Hunger verschwunden wären. Aber in Wahrheit hat das Wirtschaftswachstum den überwiegenden Teil der Gesellschaft nicht verändert – gemäss Weltbank sind immer noch 43 Prozent aller indischen Kinder unterernährt, und über die Hälfte der Bevölkerung hat keinen Zugang zu sanitären Einrichtungen. Unter diesen Umständen wird Indien noch lange auf internationale NGOs angewiesen sein.
In einem offenen Brief wehrten sich am 2. Mai mehr als 170 NGOs aus dem ganzen Land gegen die Regierungsmassnahmen. Mehrere NGO-Projekte hätten deswegen bereits eingestellt werden müssen. Sie forderten eine «dringliche Rücknahme der Strafmassnahmen», für die es keine objektiven Grundlagen gebe. Bereits spüren auch Medien vermehrt den Druck der Regierung. Dieser ergänzt die Drohungen aus dem Umfeld der BJP, die schon den Wahlkampf prägten.
Unerledigte Anfragen
Das Vorgehen gegen die NGOs wirft auch ein Licht auf Modis Demokratieverständnis. Aufgrund des deutlichen Wahlsiegs im letzten Jahr glaubt er, ein uneingeschränktes Regierungsmandat zu haben. Dabei war er auch mit dem Wahlversprechen angetreten, für eine gute und transparente Regierungsführung zu sorgen. Dafür gäbe es eigentlich das «Recht auf Information»-Gesetz von 2005, das international als wegweisend und wirksam gilt. Aufgrund dieses Gesetzes können BürgerInnen ein Gesuch stellen, um jegliche staatlichen Dokumente einzusehen, und die Behörden müssen innert dreissig Tagen darauf antworten. Doch seit Modis Amtseinsetzung vor einem Jahr liegen Tausende Anfragen unerledigt bei den Staatsstellen. Zudem hat Modis Regierung von den bisher 52 Gesetzesvorhaben, die sie ins Parlament einbrachte, nur 5 mit den Oppositionsparteien diskutiert – obwohl das eigentlich in Indien Usanz ist.
Aus dem Englischen von Markus Spörndli.