Russland: Die Schweiz, spiegelverkehrt
Der tiefe Öl- und Gaspreis hat Russlands Einnahmen einbrechen lassen. Staatliche Investitionen sollen das Land jetzt aus der Krise führen. Doch es gibt viele Hindernisse.
Auf die russische Bevölkerung kommen harte Zeiten zu. Der tiefe Ölpreis schmälert die Staatseinnahmen und schwächt die Energiekonzerne sowie deren Zulieferer. Hinzu kommen der starke Wertverlust des Rubels gegenüber dem US-Dollar und dem Euro sowie fehlende Kredite aus dem Westen für russische Unternehmen infolge der Sanktionen. Das alles werde das Bruttoinlandsprodukt Russlands dieses Jahr um vier Prozent schrumpfen lassen, schätzt Finanzminister Anton Siluanow.
Ob Russland jetzt allerdings endlich Schritte hin zu einer Diversifizierung der Wirtschaft unternimmt – weg von der einseitigen Abhängigkeit von Öl- und Gasexporten –, ist nicht sicher. Dazu müssten sich die AnhängerInnen von verstärkter Wirtschaftslenkung und Kapitalkontrollen im Kreml mit den Liberalen in der Regierung auf ein Antikrisenkonzept einigen können.
Trotziger Patriotismus
Die RussInnen haben schon mehrere Wirtschaftskrisen durchgestanden: 1992, 1998 und 2008. Doch dieses Mal kommt es besonders dick. Selbst die ArbeitsmigrantInnen aus Zentralasien beginnen, Russland zu verlassen. Mit dem Wertverlust des Rubels ist eine Arbeit für sie in Russland kaum noch attraktiv. Doch an ein Einlenken gegenüber den westlichen Forderungen nach einem Rückzug russischer Truppen aus der Ukraine wollen die meisten Menschen in Russland jetzt nicht denken. Trotziger Patriotismus ist angesagt.
Die Regale in den Lebensmittelgeschäften sind noch voll. Aber die WirtschaftsexpertInnen rechnen mit grösseren Entlassungen. Am stärksten werde es den Dienstleistungssektor treffen. Insbesondere die MoskauerInnen, die gewohnt waren, ins Ausland zu reisen und Importwaren zu kaufen, müssen sich drastisch einschränken. Kostete ein US-Dollar im letzten Jahr noch 35 Rubel, sind es derzeit bereits 65 Rubel.
Bisher ist vom Krisenplan der Regierung bekannt, dass zusätzliche Investitionen im staatlichen Sektor getätigt werden sollen. Auch soll der Staat Firmen bei Investitionen unterstützen, die die Abhängigkeit von ausländischen Waren verringern. Der Minister für die Entwicklung des Fernen Ostens, Aleksandr Galuschka, will ungenutzte Landwirtschaftsflächen für einen Rubel pro Hektare verpachten lassen.
Als Mittel gegen die starke Inflation (offiziell elf Prozent, in Wirklichkeit etwa zwanzig Prozent) fordert die Kommunistische Partei die Preisfixierung von Grundnahrungsmitteln. Doch angesichts der Machtverhältnisse in der Duma hat dieser Vorschlag keine Chance. Preisfixierungen würden, wie in der Sowjetzeit, zum vollständigen Verschwinden der Waren aus den Regalen führen, sagen KritikerInnen und schlagen als Alternative gezielte staatliche Hilfe an Arme vor.
Devisen – woher nehmen?
Russland braucht Devisen, um Auslandsschulden zu tilgen. Doch woher nehmen? Ministerpräsident Dmitri Medwedew sagt, man habe «weiterhin bedeutende Reserven, die die Zahlungen für die Staatsschulden sicherstellen». Die Situation ist allerdings kompliziert. Denn der Kapitalabfluss aus Russland ist im letzten Jahr auf die Rekordsumme von 151 Milliarden US-Dollar gestiegen. Um Geld in die Kasse zu bekommen, drängt die russische Regierung jetzt alle russischen Unternehmen, die ihr Geld in Offshorezonen wie der Schweiz angelegt haben, zur Rückkehr. Den Steuerflüchtlingen wird Straffreiheit versprochen. Ausserdem ist in informellen Gesprächen starker Druck auf die Energiekonzerne ausgeübt worden, damit sie ihre Erlöse aus dem Rohstoffverkauf von US-Dollar oder Euro in Rubel tauschen.
Die Krise hat auch ihre Chancen. Wegen des schwachen Rubels sind die Löhne, die ausländische InvestorInnen ihren russischen Beschäftigten zahlen müssen, geringer geworden. Dies könnte sich in der Softwarebranche positiv für russische EntwicklerInnen auswirken. Auch die russischen TuchherstellerInnen könnten jetzt mit China konkurrieren, schrieb das Wirtschaftsmagazin «Kommersant Dengi». Doch ob das jetzt zum Wiederaufbau einer leistungsfähigen Textilindustrie in Russland führt, ist fraglich.
Um die Spekulationen mit dem schwachen Rubel zu bremsen, erhöhte die russische Zentralbank den Leitzins im vergangenen Dezember auf siebzehn Prozent. Russland befindet sich also in der gegenteiligen Lage der Schweiz, wo inzwischen Minuszinsen eingeführt wurden, weil immer mehr Kapital ins Land fliesst. Doch wenn Russland seinen hohen Leitzins beibehält, «erstickt das die russische Wirtschaft», sagt der Pariser Wirtschaftsprofessor Jacques Sapir. Insbesondere würden private Investitionen verhindert, weil Kapital auszuleihen viel zu teuer ist. In dieser Situation wäre es für Russland die beste Lösung, Kapitalverkehrskontrollen einzuführen, um den Abfluss an Geldmitteln zu verhindern. Bisher hatte sich die Regierung dagegen gesperrt.
Ein Machtwechsel ist in Russland nicht absehbar. Die Popularität von Wladimir Putin ist grösser als noch vor zwei Jahren. Das patriotische Zusammenrücken wird durch das Kräftemessen zwischen Russland und dem Westen verstärkt. Die Medien tragen mit ihrer Berichterstattung zu diesem Trend bei. Ende November demonstrierten in Moskau noch einige Tausend Beschäftigte des Gesundheitswesens gegen die Zusammenlegung von zwanzig Krankenhäusern. Doch solche Proteste sind derzeit selten.