Russland: Kontinuität mit kleinen Schlenkern
Jetzt will der starke Mann bis ins Jahr 2024 durchregieren. Der fliegende Wechsel von Nochpräsident Dmitri Medwedew zum Wiederpräsident Wladimir Putin verspricht Stabilität. Doch die Wirtschaft lahmt, und nicht alle sind glücklich.
«Pora walit» ist mittlerweile ein viel zu lesender Satz in den russischen Internetblogs: Es ist Zeit, abzuhauen. Denn der Frust geht um, vor allem in den kritischen Kreisen der russischen Mittelschicht. Vor allem sie hatten in den letzten Jahren die leise Hoffnung gehegt, dass das Land unter dem seit 2008 regierenden Präsidenten Dmitri Medwedew ein bisschen demokratischer, ein wenig liberaler, ein Stück weit offenener werden könnte. Und nun das: ein Rollentausch, der den Ministerpräsidenten Wladimir Putin wieder ins höchste Amt hievt und Medwedew ins zweite Glied zurückversetzt. Arg überraschend kam die Machtrochade nicht, viele hatten das erwartet, und doch hat manche verblüfft, wie devot Medwedew dabei agierte.
So gross war die Verblüffung, dass die drei grossen staatlichen Fernsehkanäle ein Gespräch mit Medwedew ins Programm hoben. Konstantin Ernst, Chefredaktor des Fernsehsenders Pervij Kanal, mühte sich, den russischen Präsidenten aus der Reserve zu locken. Politiker seien doch «ambitiöse Menschen», sagte Ernst und fragte Medwedew, was denn nach dem Verzicht auf eine Präsidentschaftskandidatur aus seinen Ambitionen würde.
Ein Zehntel liberal
Die Antwort konnte nicht überzeugen. Er und Putin gehörten beide derselben politischen Kraft an, beteuerte Medwedew; es gäbe zwischen ihnen keine Differenzen in strategischen Fragen, und Putin sei nun mal populärer. Und ausserdem: Habe nicht auch Hillary Clinton Barack Obama den Vortritt gelassen? Das musste den FernsehzuschauerInnen als Begründung reichen. Eins ist jedenfalls klar: Medwedew, der ab Mai 2012 die neue russische Regierung leiten soll, wird sich in den nächsten Monaten ziemlich anstrengen müssen, wenn er seinen Kniefall vor Putin vergessen machen will. Aller Wahrscheinlichkeit nach dürfte ihm das nicht gelingen.
Doch so denkt vor allem die Mittelschicht. Und die tickt anders als die Mehrheit der Bevölkerung, wie sich nicht nur an den Reaktionen auf den Ämtertausch im Kreml ablesen liess. Das zeigt sich auch bei den regelmässigen Debatten in der TV-Sendung «Historischer Prozess». In dieser vom TV-Sender Rossija 1 ausgestrahlten Sendereihe liefern sich der linksnationale Theaterregisseur Sergej Kurginjan und der liberale Fernsehmoderator Nikolaj Swanidse wüste Redeschlachten zu historischen und aktuellen Fragen wie etwa dem Hitler-Stalin-Pakt, dem Putsch 1991, dem seit 2003 inhaftierten Exoligarchen Michail Chodorkowski oder der Finanzkrise. Am Ende können die ZuschauerInnen per SMS darüber abstimmen, wer ihrer Meinung nach die Diskussion gewonnen hat.
Der Liberale schlägt sich stets wacker. Doch das Ergebnis ist «nach jeder Sendung dasselbe – 10:1 für den hysterischen Demagogen», wie der liberale Publizist Leonid Radsichowski klagt. Und doch sei das nicht überraschend: Das Verhältnis 10:1 entspreche ziemlich exakt der Stimmungslage in der Gesellschaft, sagt Radsichowski; nur knapp ein Zehntel der Bevölkerung habe eine liberale Einstellung.
Warum tun sich die Liberalen in Russland so schwer? Es ist die Sehnsucht nach Stabilität, die vielen wichtiger ist als politische Freiheiten. Dazu kommt, dass viele das Gefühl haben, ein besseres, sichereres Leben zu haben als vor Putins Machtantritt im Jahr 2000. Wer die chaotischen Jahre unter dem ersten postsowjetischen Präsidenten Boris Jelzin miterlebt hat, die Hyperinflation 1992, die stillgelegten Fabriken, die monatelang ausstehenden Lohn- und Rentenzahlungen und den Ersten Tschetschenienkrieg von 1994 bis 1996 – der kann diesen Wunsch nach Stabilität durchaus verstehen.
Und Putin weiss, dass er nur an die wirren neunziger Jahre erinnern muss, um seine Politik passabel aussehen zu lassen. Auf dem Wahlkongress seiner Partei Einiges Russland Anfang vergangener Woche, an dem der Personalwechsel bekannt gegeben wurde, hörte sich das so an: «Wie versprochen, haben wir eine Wiederholung der zerstörerischen Schocks der Vergangenheit nicht zugelassen. Wir haben nicht zugelassen, dass unser Leben erneut zur täglichen Armut zurückkehrt.» Die Ovationen waren dem Ministerpräsidenten sicher.
Wenn Lehrer Kühe brauchen
Es bestehen keine Zweifel, dass bei der Duma-Wahl am 4. Dezember die Kreml-Partei Einiges Russland die meisten Stimmen bekommt und Putin im März 2012 zum Präsidenten gewählt wird. Und das, obwohl das Land und die russische Gesellschaft mit massiven Problemen zu kämpfen haben.
Da sind zum Beispiel die LehrerInnen. Neulich besuchte ich eine Dorfschule in Ermakowo, einem kleinen Dorf im Wolgagebiet, fünf Autostunden nordöstlich von Moskau. Das Holzgebäude der Schule stammt aus den siebziger Jahren, die Schule ist (bis auf die sanitären Anlagen) gepflegt und hat sogar eine Computerklasse. Doch die LehrerInnen müssen kämpfen. Sie verdienen 7000 Rubel im Monat, knapp 200 Franken. Ihr Gehalt liegt nur knapp über der Armutsgrenze (derzeit 6505 Rubel), und deswegen, so erzählen die LehrerInnen, hätten sie alle eine Kuh oder eine Ziege auf ihrem Hof stehen und einen Gemüsegarten. Ohne Selbstversorgung könnten sie nicht existieren.
Anderen geht es noch schlechter. Nach Angaben der russischen Statistikbehörde ist die Zahl der Armen seit dem letzten Jahr um 3 Millionen auf 21,1 Millionen gestiegen, das sind rund fünfzehn Prozent der Bevölkerung. Ein Grossteil dieser Armen sind Staatsangestellte, also BehördenmitarbeiterInnen, Krankenhauspersonal, die Beschäftigten von Bibliotheken und Museen.
Auch die inneren Spannungen nehmen zu. So wächst die Ausländerfeindlichkeit, die sich insbesondere gegen Händlerinnen und Arbeitsmigranten aus dem Nordkaukasus richtet. Nationalisten fordern wegen der hohen Subventionen für Tschetschenien, Dagestan und Inguschetien neuerdings die Abtrennung des gesamten Nordkaukasus vom russischen Territorium. Die Zahl ausländerfeindlicher Krawalle steigt. Eine Gegenaufklärung vonseiten der Regierung gibt es nicht. Nur ein paar Bürgerinitiativen werben für mehr Toleranz.
Gleichzeitig köchelt im Nordkaukasus ein Bürgerkrieg. Keine Woche vergeht ohne Anschläge auf Polizisten, ohne Säuberungsaktionen gegen den islamistischen Untergrund. Der schwelende Konflikt hat in den letzten Jahren einen kaukasischen Patriotismus entstehen lassen; eine wachsende Zahl von Menschen fühlt sich Russland nicht mehr zugehörig – was allerdings nicht nur daran liegt, dass die Subventionen aus Moskau in den Taschen korrupter Beamter in Grosny, Nasran und Machatschkala versickern. Denn auch im russischen Kernland grassiert die Korruption.
Und diese breitet sich weiter aus. Auf der Liste von Transparency International rutschte Russland letztes Jahr um acht Plätze nach unten und steht nun auf Rang 154 (von insgesamt 178). Schlimmer als in Russland ist die Korruption nur noch im Nahen Osten und in Zentralafrika – sie hat alle Lebensbereiche durchdrungen. Schmiergeld wird für ein gutes Schulabschlusszeugnis verlangt, für eine fachgerechte Operation im Krankenhaus, für Bauaufträge.
Kommt ein Kurswechsel?
Die sozialen Probleme werden sich noch verschärfen, wenn die Finanz- und Wirtschaftskrise – wie zu erwarten – auch auf Russland durchschlägt. Der Kreml bereitet sich also auf härtere Zeiten vor, und sehr wahrscheinlich haben der Rollentausch von Putin und Medwedew und die anschliessende Entlassung von Finanzminister Alexej Kudrin damit zu tun. Schon im Februar hatte es zwischen Medwedew und Kudrin Meinungsverschiedenheiten über die Finanz- und Ausgabenpolitik gegeben. Nach seinem Rauswurf bezog Kudrin denn auch öffentlich Stellung. Er könne die steigenden Ausgaben für Soziales und Rüstung nicht akzeptieren, sagte der Finanzpolitiker, der sich elf Jahre lang für einen ausgeglichenen Staatshaushalt eingesetzt hatte.
Es deutet also manches auf einen Kurswechsel in der russischen Finanzpolitik hin. Laut Medienberichten könnte die Regierung in Zukunft eine aktivere Wirtschaftspolitik betreiben. In der Tageszeitung «Iswestija» plädierte der Politologe Boris Meschujew bereits für eine linkszentristische Regierungskoalition, der auch die KommunistInnen angehören sollten. Erfahrungen gibt es bereits: Während der russischen Finanzkrise 1998 hatte der damalige Premier Jewgenij Primakow die Kommunistische Partei in eine linkszentristische Regierung geholt. Da die Regierung davon ausgeht, dass das Wachstum von derzeit 4,1 Prozent im nächsten Jahr auf 3,7 Prozent sinkt, ergäbe ein Konjunkturprogramm durchaus Sinn. Selbst der bisherige Finanzminister Kudrin erwartet ein «schwieriges Szenarium», wenn der Ölpreis infolge einer weltweiten Rezession in den kommenden Jahren drastisch sinkt. Dann, so heisst es im Wirtschaftsministerium, könnte eine «substanzielle Abwertung» des Rubels nötig werden.
Parallel dazu setzt Putin sozialpolitische Akzente. Man werde die Steuern für die Reichen erhöhen, verkündete er auf dem Parteitag vergangene Woche. Konkret nannte der Ministerpräsident die Steuern auf Eigentum und Immobilien. Zudem versprach er, soziale Probleme im Dialog und nicht mit Gummiknüppel und Tränengas lösen zu wollen. Ganz neu ist diese Richtung nicht: Schon im Juli 2009 sorgte Putin für Schlagzeilen, als er in die nordrussische Kleinstadt Pikaljowo fuhr, wo AnwohnerInnen wegen einer Betriebsschliessung eine Fernstrasse blockiert hatten. Vor laufenden Fernsehkameras zwang der Ministerpräsident den Oligarchen Oleg Deripaska, die Schliessung rückgängig zu machen.
Putins System der gelenkten Demokratie mit den vier handzahmen Duma-Parteien (Einiges Russland, die ebenfalls Kreml-nahe Partei Gerechtes Russland, die KommunistInnen und die nationalistisch-populistischen Liberaldemokraten von Wladimir Schirinowski) funktioniert also noch – trotz der zunehmenden Politikverdrossenheit. Nach einer Umfrage des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts Lewada wird sich an der Zusammensetzung des Parlaments nach der Wahl Anfang Dezember nichts ändern.
Zumal Putin durchaus flexibel ist. Als im Mai die Popularitätsrate seiner Partei rapide sank und viele RussInnen von der «Partei der Diebe und Gauner» zu sprechen begannen, gründete der Ministerpräsident kurzerhand die Gesamtrussische Nationale Front. Zweck der Übung war eine personelle Auffrischung der Kreml-Partei Einiges Russland. Diese «Volksfront», der Frauen- und Wirtschaftsverbände ebenso angehören wie Organisationen von Autofans und Afghanistanveteranen, stellt nun 180 der 600 KandidatInnen von Einiges Russland für die kommende Parlamentswahl. Ein Handicap freilich bleibt: Laut einer Lewada-Studie glauben nur 38 Prozent der Befragten, dass die Wahlen ohne Fälschungen ablaufen werden.
Eine Eurasische Union?
Wladimir Putin hat das Zepter wieder in der Hand. Das demonstrierte er am Dienstag dieser Woche, als er in einem Beitrag für die Tageszeitung «Iswestija» die Gründung einer «mächtigen übernationalen Vereinigung» anregte, eine Art eurasischer Union. Bereits im nächsten Jahr soll eine Zollunion aus Russland, Weissrussland und Kasachstan entstehen. Danach will Putin die zentralasiatischen Republiken Kirgisistan und Tadschikistan einbeziehen.
Ziel sind zunächst die Beseitigung von Handelshemmnissen und Freizügigkeit für Arbeitskräfte. Eine neue Sowjetunion werde das nicht, beteuerte Putin. Aber es wird auch keine EU: In Brüssel gibt es immerhin noch ein annäherndes Gleichgewicht zwischen grossen und kleinen Staaten.