Die Verfassungsgerichtsbarkeit: Weshalb Paul Rechsteiner mit den Rechten stimmte
Seit letztem Dienstag ist klar: In der Schweiz werden auch künftig Gerichte nicht darüber befinden können, ob Bundesgesetze der Verfassung entsprechen. Der Ständerat hat anders als der Bundesrat und eine Mitte-links-Mehrheit im Nationalrat einen entsprechenden Vorstoss abgelehnt. Doch warum stimmte der Linke Paul Rechsteiner dagegen?
Im Hintergrund verfolgten am Dienstagmorgen die beiden Nationalräte Daniel Vischer (Grüne) und Andreas Gross (SP) die Debatte im Ständerat. Beide sind klare Befürworter einer Verfassungsgerichtsbarkeit. Sie halten die Befürchtungen der Rechten für abwegig und jene von Paul Rechsteiner und einer linken Minderheit im Nationalrat für übertrieben. Alle erwarteten einen knappen Entscheid – und sollten sich täuschen.
Linke Standesvertreter wie Claude Janiak, Luc Recordon, Hans Stöckli oder die mit dem Geschäft betraute SP-Bundesrätin Simonetta Sommaruga mühten sich, die Kleine Kammer vom Sinn der Ausdehnung der Verfassungsgerichtsbarkeit auf die Bundesebene zu überzeugen. Diese gilt seit dem Jahr 1874 bloss in den Kantonen, denn damals waren weitgehend kantonale Gesetze massgebend.
Daher sind bislang nicht alle in der Bundesverfassung garantierten Grundrechte einklagbar, etwa die Rechtsgleichheit, die Eigentumsgarantie oder die Wirtschaftsfreiheit – im Gegensatz zu den Menschenrechten. Sie können aufgrund des Artikels 190 der Bundesverfassung («Bundesgesetze und Völkerrecht sind für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden massgebend») beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geltend gemacht werden. Während das Völkerrecht, das die Menschenrechte garantiert, für Schweizer Gerichte bindend ist, sind es in all jenen Bereichen, die das Völkerrecht nicht behandelt, die Bundesgesetze – das heisst, dass kein Gericht überprüfen kann, ob Bundesgesetze der Verfassung entsprechen.
Diesen Widerspruch wollten Bundesrat und Nationalrat mit der Streichung des Artikels 190 beseitigen. Wäre der Artikel aufgehoben worden, hätten zwar keine Bundesgesetze grundsätzlich angefochten werden können (abstrakte Normenkontrolle), sehr wohl aber ausgehend von konkreten Einzelfällen (konkrete Normenkontrolle). Doch der Ständerat lehnte das Ansinnen deutlich mit 27 zu 17 Stimmen ab. Damit ist die Verfassungsgerichtsbarkeit nach 1939 (hochkant verworfene Volksinitiative) und 2000, als der Bundesrat vergeblich eine Revision anregte, abermals vom Tisch.
Politische Gerichte
Mit der bürgerlichen Mehrheit stimmte auch der St. Galler SP-Ständerat Paul Rechsteiner. Anders als konservative Kreise, vorab die SVP, befürchtet Rechsteiner freilich nicht gleich die «Abschaffung der Demokratie» oder einen «Richterstaat». Er verweist hingegen auf die in Artikel 190 speziell geschützten transnationalen Menschenrechte und auf die wirtschafts- und sozialpolitischen Folgen, die eine Streichung des Artikels hätte haben können.
So irritierend im ersten Moment Rechsteiners Haltung anmuten mag – die Linke stand einer Verfassungsgerichtsbarkeit noch vor wenigen Jahrzehnten skeptisch bis ablehnend gegenüber. Und das hatte gute Gründe. So entschieden etwa in den USA oder in Deutschland VerfassungsrichterInnen über die Frage des Schwangerschaftsabbruchs – und wie diese Entscheide ausfielen, hing von der politischen Haltung der RichterInnen ab. Das verhält sich heute nicht anders. In der Schweiz hingegen wurde diese Frage 2002 der Stimmbevölkerung vorgelegt, die die Fristenregelung guthiess.
In den USA hat aktuell das Oberste Gericht über den grössten innenpolitischen Erfolg der Regierung Obama zu befinden – das Krankenversicherungsobligatorium. Die politisch alles andere als neutralen Mitglieder des Supreme Court entscheiden darüber, ob diese Reform verfassungsmässig ist oder nicht, also ob die obligatorische Krankenversicherung die wirtschaftlichen Freiheiten unzulässig beschneidet oder nicht. Auch wenn das Schweizer System nicht direkt damit vergleichbar ist – ähnliche Fragen hätte nach der Einführung der Verfassungsgerichtsbarkeit auch das Bundesgericht beurteilen müssen.
Die befürchteten Folgen
Auch das 1996 in der Schweiz eingeführte Krankenkassenobligatorium wird von rechtskonservativen Kreisen immer wieder infrage gestellt. Mit der Einführung der Verfassungsgerichtsbarkeit könnten sie das Obligatorium im Namen der Wirtschaftsfreiheit einzelfallweise attackieren. Männer könnten auch darauf klagen, im gleichen Alter wie die Frauen pensioniert zu werden. Oder die versuchte Strommarktliberalisierung: Sie wurde im Jahr 2002 vom Volk abgelehnt. Daraufhin wurde das noch nicht bundesgesetzlich verankerte Versorgungsmonopol beim Bundesgericht auf kantonaler Ebene angefochten – wo die Verfassungsgerichtsbarkeit existiert – und im Fall des Kantons Freiburg die Strommarktliberalisierung per Gerichtsentscheid durchgedrückt.
Ladenöffnungszeiten, Service-public-Regulierungen wie das Postmonopol oder sozialpolitisch begründete Besserstellungen bei Sozialversicherungen bis hin zu wirtschaftspolitischen Regulierungen könnten auf die gleiche Weise ausgehebelt werden. Zu befürchten wäre gewesen, dass dann bei den Grundrechten, die jetzt nicht einklagbar sind, besitzbürgerliche Absichten im Vordergrund stehen würden. Allerdings könnten umgekehrt auch Vorstösse wie die Verwahrungsinitiative, die Minarettinitiative, die Unverjährbarkeitsinitiative oder die Ausschaffungsinitiative angefochten werden.
Direktdemokratisches Korrektiv
Zwar lässt sich das direktdemokratische System der Schweiz nicht mit jenem der USA oder Deutschlands vergleichen. Und die Schweiz kennt auch kein eigentliches Verfassungsgericht. Aber mit der Ausdehnung der Verfassungsgerichtsbarkeit würden die Gerichte mehr Einfluss auf die Gesetzgebung gewinnen. Heute ist diese Macht in der Hand des Parlaments und des Souveräns, der mit dem Referendum korrigierend eingreifen kann.
Paul Rechsteiner verteidigte in seinem Votum am vergangenen Dienstag im Ständerat dieses System und holte dazu weit aus. Sein Argument: Die Menschenrechte seien dank Artikel 190 der Bundesverfassung, der dem Völkerrecht Vorrang einräumt, politisch nicht relativierbar, bei allen anderen Verfassungsbestimmungen gelte hingegen laut dem gleichen Artikel der Vorrang der Bundesgesetzgebung und somit der Politik. Das sei seit der Neugründung der Schweiz im 19. Jahrhundert so gewollt und auch richtig: «Gesetzgebung heisst Politik. In der Wirtschaftspolitik, in der Sozialpolitik, aber auch in der Steuer- und Energiepolitik hat der Gesetzgeber das Sagen und im Falle eines Referendums das Volk – und nicht letztinstanzlich der Richter.»
Wenn er Bilanz ziehe, sagte Paul Rechsteiner, dann gebe es gute Gründe, im Verhältnis der Institutionen in der direkten Demokratie bei den Grundentscheidungen zu bleiben, wie sie im jungen Bundesstaat begründet und in den letzten Jahrzehnten mit den internationalen Menschenrechtspakten weiterentwickelt worden seien. Artikel 190 sage mit dem Vorrang der Bundesgesetzgebung nichts anderes, als dass politische Fragen auch politisch entschieden werden müssten. Gleichzeitig sei diese Bestimmung mit dem Vorrang des Völkerrechts auf die Zukunft gerichtet.
Deshalb lautet Rechsteiners Fazit zur Verfassungsgerichtsbarkeit: «Die konservative, bewahrende Haltung ist für einmal die progressive, die fortschrittliche.»