Asylpolitik: Wenn das Volk eines Tages nicht mehr davonlaufen muss

Nr. 8 –

Rita Donatz führt in der Schaffhauser Gemeinde Buch, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen, eine «Asylwohngemeinschaft».

Rita Donatz vor dem Asyldurchgangsheim von Buch: «Wenn die Tür nicht zu ist, heisst das: ‹Ihr könnt kommen, Mama Rita ist da!›»

Der kürzeste Weg von der Kantonshauptstadt Schaffhausen nach Buch führt viermal über die Landesgrenze. Gleich nach der Dorflinde, auf dem Hügel am Dorfrand, am Rande der Schweiz steht ein riesiger alter Bau; seit 1987 dient das ehemalige Kinderheim als Asyldurchgangsheim. Fast ebenso lange wirkt hier Rita Donatz, heute als stellvertretende Heimleiterin. Für die Asylsuchenden ist sie einfach «Mama Rita».

Buch hat 300 EinwohnerInnen. Im Heim halten sich zu Spitzenzeiten gegen hundert Asylsuchende auf. Wie geht das in so einem abgelegenen Ort?

Es geht, denn «Mama Rita» achtet darauf, dass es «ein Geben und Nehmen» ist zwischen Dorf und Heim. Sie und ihre Schützlinge sind immer für die DorfbewohnerInnen da, wenn Not am Mann ist oder an der Frau. Und die Leute im Dorf «halten uns die Stange», sagt Rita Donatz, auch wenn mal Bierdosen fliegen, ein Velo gestohlen wird oder die Polizei auf der Suche nach Diebesgut und Drogen auftaucht. In den über zwanzig Jahren, die sie hier arbeitet, habe es «nie Krach mit dem Dorf gegeben».

Darauf ist Rita Donatz stolz. Und darauf arbeitet sie weiter hin. Mit einem ganzen Bündel Erfahrung, die sie einst in der Pflege von Betagten gesammelt hat. «Irgendwann habe ich mir gesagt, das hier ist zu traurig, ich muss zu den Jungen.» Doch die Menschen am Rand des Lebens haben ihr enorm viel mitgegeben: «Es war die beste Lebensschule für mich.»

Ämtli wie in der WG

Man merkt es an der Ruhe und Bestimmtheit, die Donatz ausstrahlt. An der respektvollen Beziehung zu den Asylsuchenden. Immer wieder kommt einer ins Zimmer mit einem Besenstiel oder einem Billardqueue, der repariert werden muss, oder einer Ladung Pfannen, die er eben für die Küche gekauft hat, und entschuldigt sich für die Störung. «Du störst nicht», sagt Mama Rita. Das gegenseitige Du geht selbstverständlich über die Lippen, «es ist bei den vielen Sprachen hier auch einfacher».

Ebenfalls selbstverständlich ist, dass die BewohnerInnen mitarbeiten. «Mama Rita» führt kein Asylheim, sondern eine «Asylwohngemeinschaft». Irgendwann wurde ein Kärtchen eingeführt, die erledigten Arbeiten werden darauf vermerkt, und wenn es am Ende der Woche voll ist, erhalten die Asylsuchenden 21 Franken. Manche kommen wie zufällig mit einem Küchentuch über dem Arm vorbei, wenn der Abwasch schon gemacht ist. Dann bleibt die Karte leer.

Eigentlich hat Rita Donatz eine Ausbildung als Hundecoiffeuse gemacht – «wo einen das Leben halt so hinführt». Sie hat als Pflegehilfe gearbeitet, früh geheiratet, ihre Kinder grossgezogen. Zum Erlernen des Wunschberufs Hebamme hat die Zeit irgendwie nie gereicht. Und jetzt ist sie also seit bald dreissig Jahren «in der Friedeck hängen geblieben». Mit ihren heute 62 Jahren hat sie Verständnis dafür, dass «die Jungen» eigentlich lieber in die Stadt möchten, und sie weiss auch, dass es politisches Kalkül ist, ein Heim so weit draussen auf dem Land einzurichten. Aber sie selbst findet es wunderschön hier, zwischen Feldern und Hügeln: «Ich bin ein Landei.» Das seien wohl ihre Engadiner Wurzeln. Und sicher sei es auch gut für die Asylsuchenden. «Es ist so wichtig für sie, dass sie sich endlich irgendwo hinsetzen können.» Darum gibt es keine starren Bürozeiten, keine strengen Hierarchien im Heim, und die Türen stehen meistens offen: «Wenn die Tür nicht zu ist, heisst das, ihr könnt kommen, Mama Rita ist da!» Mit Rat und Tat, wenn wieder mal eines ihrer «Kinder» Dummheiten gemacht hat in der Stadt. Und wenn zwei von ihnen anfangen, miteinander zu «chäsperlen», rät sie auch mal zum Gebrauch eines Kondoms.

Von der Weltreise träumen

Eines jedoch duldet sie nicht: «Aufgescheuchte Leute, die provozieren und Streit suchen und andere unterdrücken wollen.» Sie sei es denen im Heim schuldig, die nicht noch zusätzliche Unruhe ertragen würden. Vor ein paar Jahren brachten sexuelle Übergriffe und Einbrüche das Heim in die Schlagzeilen. Damals wurde im Industriegebiet der Stadt Schaffhausen ein Container eingerichtet. Dort werden seither sogenannte Problemfälle untergebracht. Die Türen sind offen, tagsüber kann man kommen und gehen, wie man will, doch die BewohnerInnen sind verpflichtet, die Nacht dort zu verbringen. Eigentlich eine problematische Einschränkung von Grundrechten, doch manchen Asylsuchenden war es gar nicht unlieb, näher bei der Stadt zu wohnen. Rita Donatz findet, die Massnahmen hätten sich bewährt. «Wir sind natürlich auch eine unglaubliche Truppe, alle Mitarbeitenden sind seit zehn oder fünfzehn Jahren hier, das macht die Sache einfacher.»

Die Schicksale ihrer wechselnden Familienmitglieder kennt sie, und möchte es doch manchmal nicht so genau wissen. «Oft trage ich am Feierabend schwer daran.» Auch den politischen Druck spürt sie, «nicht hier im Dorf», aber wenn sie hört, wie am Stammtisch geredet wird. Dann träumt sie vom Meer, von weissen Inseln und der Weltreise, die sie immer machen wollte. Doch von früheren Fahrten durch Thailand, Malaysia und Nordafrika kennt sie die Realität, nämlich «Armut, Abfall und Unterdrückung».

«Jede Regierung sollte verpflichtet sein, das eigene Volk so gut zu halten, dass es nicht davonlaufen muss.» Dann gäbe es keine Flüchtlinge mehr. «Das wäre mein schönster Tag», sagt sie, «wenn ich hier ganz alleine sitzen würde.»