Das Massaker von Kalavryta: Das Leiden nach dem Krieg

Nr. 13 –

Noch immer warten in Griechenland die Angehörigen der Naziopfer auf eine Entschädigung. Die Erinnerungen an die Gräuel von damals sind bis heute präsent.

Giorgos Dimopoulos, Überlebender: «Wir schauten unsere Mutter an, doch sie war so hilflos wie wir.»

«Ich werde nie vergessen können, was damals im Dezember 1943 in meinem Dorf geschehen ist», sagt Giorgos Dimopoulos. Er steht auf den Stufen zum Haupteingang des Holocaust-Museums in Kalavryta, einem Bergdorf auf dem Nordpeloponnes. Der heute 85-jährige Mann zeigt auf eine der Stufen. «Hier hat mich der Wehrmachtssoldat hingeschmissen», erzählt er. Damals, als die Männer von den Frauen getrennt wurden. Dimopoulos war gerade dreizehn Jahre alt, und der Soldat konnte sich nicht entscheiden, ob er ihn zu den Männern oder zu den Frauen mit Kindern einteilen sollte. Schliesslich warf er den Jungen auf die Stufen, und er fiel in Richtung seiner Mutter. Die Männer wurden auf den nahe gelegenen Kapi-Hügel gebracht und erschossen.

Blutbefleckte Geldscheine

Mindestens 650, nach anderen Angaben sogar über 1000 EinwohnerInnen kamen an diesem Tag ums Leben. Frauen und Kinder wurden in der Dorfschule zusammengepfercht. Der alte Mann stockt nicht, wenn er spricht. Seine Worte sind klar. «Meine Geschwister und ich schauten in der Schule voller Angst unsere Mutter an. Doch diese senkte den Kopf. Sie war genauso hilflos wie wir.» Vor der Schule standen die deutschen Soldaten, tranken Wein und lachten.

Die Schule von Kalavryta ist heute ein Museum, in dem Erinnerungsstücke gezeigt werden und in dem die Geschichte einzelner Opfer erzählt wird. Dimopoulos zeigt auf zwei Geldscheine, die in einer Glasvitrine verwahrt sind. Seine Finger malen auf der Trennscheibe die Umrandung der Scheine nach. «Die braunen Flecken dort an den Seiten, das ist das Blut meines Vaters», sagt Dimopoulos. Er habe bei sich zu Hause noch mehr blutbefleckte Scheine, die er als Andenken an ihn hüte. Auch sein Onkel wurde damals hingerichtet. Dimopoulos geht einen Raum weiter und zeigt auf die Fotografien von Onkel und Vater, die in einer Collage mit den Fotos weiterer Opfer an einer Wand hängen. Beim Wort «Deutschland» zuckt der Mann zusammen, scheint sich dann wieder zu fangen.

Wenn er Deutsche sprechen höre, sei das für ihn auch heute noch mit Schrecken verbunden. «Das geht nicht weg», sagt Dimopoulos leise. Er höre in dem Klang der Sprache immer noch die Worte «Raus!», «Papiere!», «Los, los!» – und «kaputt».

180 000 tote GriechInnen

Letzteres hörte Giorgos Dimopoulos oft. Das Wort sagten die Wehrmachtssoldaten, wenn sie zerstörten, Häuser niederbrannten und Menschen erschossen. Die deutschen Soldaten brannten fast ganz Kalavryta nieder. Auch die Schule, in der er mit seiner Mutter sass, fing damals Feuer. Doch die Frauen und Kinder stürmten hinaus. Die Soldaten hinderten sie nicht. «Wir fanden dann meinen Vater. Seine Augen und sein Gehirn quollen aus seinem Kopf» – Bilder, die ihn immer noch aus dem Schlaf reissen.

Das Leben in Kalavryta sei zuvor wunderschön gewesen. Theater und viele Bildungsstätten habe es hier gegeben. Die wachen Augen des alten Mannes leuchten kurz auf. «Kalavryta wurde das kleine Paris dieser Gegend genannt.» Das war mit dem Krieg vorbei. Im Frühjahr 1941 griffen deutsche und italienische Truppen Griechenland an und besetzten es innerhalb zweier Wochen. Doch in der Bevölkerung formierte sich Widerstand. Neben kleineren und unabhängig voneinander agierenden Partisanenkämpfern ging aus der linken nationalen Befreiungsfront Eam die paramilitärische Organisation Elas – die griechische Volksbefreiungsarmee – hervor. Auf der rechten Seite gründete sich die Nationale Republikanische Griechische Liga Edes. Beide Partisanenverbände wurden von den Briten mit Waffen, Kleidung und Nahrung unterstützt. Die Deutschen zogen 1944 ab, weil die sowjetische Rote Armee nach Deutschland vorrückte. Bei ihrem Abzug zerstörte die Wehrmacht fast die gesamte Verkehrsinfrastruktur des Landes – Brücken und Eisenbahnen.

Nach Angaben der deutschen Bundeszentrale für politische Bildung wurden während der Besatzungszeit insgesamt 180 000 GriechInnen getötet. Das Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr unterteilt die Zahl in 20 000 gefallene Soldaten und 160 000 zivile Opfer. Letztere wurden ermordet oder verhungerten. Gegen Ende der Okkupation starben viele an epidemischen Infektionskrankheiten. Während der Besatzungszeit wurden rund 80 000 Menschen im Rahmen der sogenannten Partisanenbekämpfung hingerichtet. In Kalavryta wurde eines der grössten Massaker verübt. Nach Angaben des Deutschen Historischen Museums zerstörten die Nazis insgesamt 1700 griechische Dörfer.

In den ersten Nachkriegsjahren war Kalavryta als Ort bekannt, in dem fast nur Frauen lebten, da ihre Männer getötet worden waren. Deutschland hat an Griechenland, nachdem die Bundesrepublik 1960 ein Entschädigungsabkommen mit Griechenland geschlossen hatte, bisher 115 Millionen D-Mark gezahlt (vgl. «Allein schon eine Frage der Moral» ). «Wir haben davon nichts bekommen», sagt Dimopoulos. Es gehe nicht ums Geld an sich – das könne die Gräueltaten sowieso nicht wiedergutmachen. Es gehe darum, dass die Mütter durch die totale Zerstörung ihrer Lebenswelt in der Nachkriegszeit weiterlitten. Diese Frauen und Kinder hätten durch Entschädigungszahlungen leichter wieder auf die Beine kommen können.

Er hoffe, dass wenigstens die Kinder von damals, die heute über achtzig Jahre alt sind, einen Ausgleich erleben werden. Viel Zeit bleibt dafür nicht mehr.