Alanis Obomsawin: Mit der Kamera mittendrin

Nr. 14 –

In ihrer Heimat wird sie als lebende Legende verehrt: Alanis Obomsawin ist die Pionierin des indigenen Kinos in Kanada – und auch mit 82 Jahren noch von Kampfgeist getrieben. Die WOZ traf die Regisseurin am Filmfestival in Fribourg.

«Es gibt noch so viel zu tun»: Für Alanis Obomsawin ist Filmen ein politischer Akt. Foto: Julien Chavaillaz

Alanis Obomsawin ist noch auf der Suche nach Geschenken. 800 braucht sie bis Weihnachten. Ein paar habe sie schon, sagt die zierliche, kleine Frau und lächelt. Sie sitzt mit geradem Rücken in einer Hotellobby in Fribourg, die Haare zu einem Zopf geflochten, die Hände mit silbernen Fingerringen geschmückt; unter ihrem langen, schwarzen Kleid sind die dünnen Absätze ihrer Stiefel zu sehen. Es ist kaum zu glauben, dass die kanadische Filmemacherin 82 Jahre alt ist.

Wir treffen Alanis Obomsawin am Filmfestival in Fribourg, wo sie vergangene Woche als Jurypräsidentin amtete. Ausserdem waren ihre Werke im Spezialprogramm «Terra Incognita» zu sehen, das fast ausschliesslich Spiel- und Dokumentarfilme von Indigenen aus Nordamerika zeigte. Alanis Obomsawin ist eine der wichtigsten und eine der ersten VertreterInnen dieses Filmschaffens: Vor über vierzig Jahren war sie die erste indigene Kanadierin, die das Leben und den Kampf der Native Americans dokumentierte. Heute umfasst ihre Filmografie über vierzig Dokumentarfilme, in ihrer Heimat wird sie als «lebende Legende» bezeichnet.

Die eigene Geschichte zurückgeben

Alanis Obomsawin kommt gerade von der Diskussion nach einer Schulvorführung, darum ist sie etwas heiser. Sie möge den Kontakt mit Jugendlichen und Kindern, sagt sie: «Was ich seit Jahren mache, ist Bildungsarbeit. Und ich liebe diese Arbeit!» Die Bildungs- und Aufklärungsarbeit war es denn auch, die sie vor über vierzig Jahren zum Film brachte.

Obomsawin wuchs als Mitglied der Abenaki-Gruppe im Odanak-Reservat nordöstlich von Montreal auf. Bereits als junges Mädchen zweifelte sie an der Version der Geschichte, die sie in der Schule über ihr Land lernte. «Ich mochte die Geschichten nicht, die uns über Kanada erzählt wurden. Wir Indigenen wurden stets als brutal und wild hingestellt.» Das machte sie wütend. Später begann sie, Geschichten von Native Americans zu sammeln und weiterzuerzählen: Über Jahre reiste sie durchs Land, von Reservat zu Reservat, von Schule zu Schule. Sie hatte ihre Geschichten dabei und sang alte traditionelle Lieder sowie selber komponierte Stücke. «Ich wollte den Kindern ihre eigenen Geschichten zurückgeben, die man uns genommen hatte», sagt sie.

Durch einen Film über sie wurden Produzenten der staatlichen Filmbehörde National Film Board of Canada (NFB) auf Alanis Obomsawin aufmerksam und stellten sie Ende der sechziger Jahre für Filmrecherchen ein. Sie mochte diese Arbeit jedoch nicht: «Ich merkte bald, dass sie mich nur missbrauchten, um ihnen die Tür zu den Reservaten zu öffnen.» Sie kündigte ihre Anstellung als Researcherin und begann, in Bildungsprojekten zu arbeiten. Ihre Augen leuchten, wenn sie von dieser Zeit erzählt. Mit einem Bildungskoffer voller Filme, die jeweils von einer spezifischen indigenen Gruppe erzählten, bereiste sie Schulen, um den Kindern diese Welten näherzubringen. «Hier entdeckte ich die Kraft und die Macht des Films», sagt sie. Also drehte sie 1971 ihren ersten Film, und noch heute ist für sie das Filmen ein politisch engagierter Akt mit dem Ziel, Missstände nicht bloss aufzuzeigen, sondern auch zu überwinden: «Deswegen habe ich überhaupt die Kraft weiterzumachen.»

Tatsächlich haben viele ihrer Filme politische Veränderungen bewirkt, so auch ihr bekanntestes Werk, «Kanehsatake. 270 Years of Resistance» (1993). Obomsawin dokumentierte darin aus nächster Nähe, wie Indigene 78 Tage lang um ein Stück Land kämpften. Die Auseinandersetzung ging in die kanadische Geschichte ein: 1990 wollte der Bürgermeister der Gemeinde Oka einen Golfplatz erweitern – auf dem Gebiet des Friedhofs der Mohawks. Einige Mohawks bewaffneten sich und errichteten Barrikaden, woraufhin die Regierung ein riesiges Militäraufgebot schickte. Alanis Obomsawin war mit der Kamera mittendrin. «Die Dreharbeiten waren gefährlich, man wusste in keinem Moment, wie die Sache enden würde.» Als ihr Kameramann den Drehort verliess, drehte sie alleine weiter. Obomsawin schlief auf dem Boden und filmte praktisch Tag und Nacht.

Als der Film drei Jahre später fertig war – Obomsawin hatte über hundert Stunden Material –, wollte das kanadische Fernsehen das zweistündige Werk nicht ausstrahlen. Es müsse auf 45 Minuten gekürzt werden, hiess es. Obomsawin weigerte sich, und so hatte «Kanehsatake. 270 Years of Resistance» seine Premiere beim britischen TV-Sender Channel 4. Anschliessend lief der Film auf verschiedenen Festivals, und erst eine von internationalen FilmemacherInnen unterschriebene Petition führte dazu, dass «Kanehsatake» auch in Kanada im Fernsehen gezeigt wurde. Drei Jahre nach den Ereignissen gelangten damit erstmals erschütternde Bilder aus dem Innersten des Geschehens an die Öffentlichkeit – Bilder, die nicht den offiziellen Medienberichten entsprachen und die den Indigenen und ihrem Kampf um ihr Land viel Sympathie entgegenbrachten. «Seither hat es kein lokaler Politiker mehr gewagt, Land der Indigenen in Anspruch zu nehmen», so Obomsawin.

Tanzen zu Prince

In ihren jüngsten Filmen widmet sie sich dem Recht auf Bildung – einem Grundrecht, das vielen indigenen Kindern in Kanada nicht wirklich zugestanden wird, wie Obomsawin in ihrem Film «Hi-Ho Mistahey!» (2013) eindrücklich zeigt. Auch privat engagiert sie sich immer wieder für Kinder und Jugendliche. Und seit fünfzig Jahren beschenkt sie zu Weihnachten die Kinder in verschiedenen indigenen Dörfern. Früher habe sie die Geschenke noch selber gemacht, sagt sie, aber mittlerweile seien es zu viele. Deshalb sucht sie das ganze Jahr über stets nach Geschenken.

«Alanis ist der Anfang von allem», sagt der indigene kanadische Filmhistoriker Jesse Wente über Obomsawin. «Ohne sie wäre das indigene Kino nicht da, wo es heute steht.» Mittlerweile existiert in Kanada und den USA eine neue, Generation von jungen indigenen Filmschaffenden, die sowohl Dokumentar- wie auch Spielfilme realisieren. Seit 1999 gibt es den öffentlich-rechtlichen Fernsehsender Aboriginal Peoples Television Network, der von Indigenen betrieben wird und einen etwas anderen Blick auf Kanada wirft. Ausserdem habe in fast jeder Community jemand eine Kamera, so Obomsawin. «Wenn etwas passiert, kann es sofort gefilmt werden. Und dank der neuen Medien kann man die Bilder gleich veröffentlichen.» Das sei fantastisch, findet Obomsawin. Ob man sie denn als Grossmutter dieser neuen FilmemacherInnen bezeichnen könne? «Das ist lustig», sagt Obomsawin nur und lässt die Frage unbeantwortet im Raum stehen.

Dann ist es Zeit zu gehen. Fürs Geschenkekaufen wird es nicht mehr reichen: Alanis Obomsawin wird nach der Vorführung ihres neusten Films, «Trick or Treaty?», dem Publikum Rede und Antwort stehen, dann wird sie sich einen Wettbewerbsfilm anschauen und schliesslich bis in die Morgenstunden tanzen. Elegant und stolz wird sie sich auf der Tanzfläche zu Prince und The Tings Tings bewegen – und man glaubt ihr sofort, dass sie noch lange nicht ans Aufhören denkt. Denn: «Es gibt noch so viel zu tun!»

Filme von Alanis Obomsawin sind auf der
 Website des National Film Board of Canada
zu sehen: www.nfb.ca.