Watch the Med Alarmphone: «Wir sind auf konkrete Projekte angewiesen»

Nr. 15 –

Der Kameruner Trésor hat die Flucht über das Mittelmeer überlebt. Heute hilft er im internationalen Netzwerk Watch the Med, schiffbrüchige Flüchtlinge zu retten. Der WOZ erzählt er, wieso sein Engagement auch eine Therapie ist.

«Ich habe viele Freunde verloren. Wenn ich daran denke, treibt mich das an»: Trésor engagiert sich beim Projekt Watch the Med Alarmphone für in Seenot geratene Flüchtlinge.

+334 86 51 71 61: Wer die Nummer des Alarmphones wählt, ist in Not oder macht sich Sorgen um Familie oder FreundInnen. Am 2. März zum Beispiel gerät ein Boot mit 34 Flüchtlingen vor der griechischen Insel Lesbos in Seenot. Auf dem Mittelmeer wählt jemand die Nummer: «Wir brauchen Hilfe, die Zeit ist knapp», heisst es. Sofort wird die griechische und auch die türkische Küstenwache informiert. Das Flüchtlingsboot kann rechtzeitig gerettet werden. So ist es in einem der über 300 Berichte von Watch the Med zu lesen. Seit Oktober 2014 helfen Freiwillige rund um die Uhr das Alarmphone zu unterhalten. Jeder Fall wird akribisch festgehalten und auf der Website des Projekts publiziert.

Die Idee geht zurück auf den eritreischen Priester und Friedensnobelpreiskandidaten Mussie Zerai, der seit drei Jahren in der Schweiz lebt. Seit über zehn Jahren erhält er Notrufe aus dem Mittelmeer, im letzten Jahr konnte er rund 5000 Flüchtlinge vor dem Ertrinken retten. Verschiedene Netzwerke aus Europa und Nordafrika haben sich letzten Herbst zusammengeschlossen, um das Alarmphone zu bedienen. Auch in der Schweiz, in Bern und Zürich, gibt es Regionalgruppen, regelmässige Treffen in Neuchâtel und Basel sind in Planung.

An einer Veranstaltung treffen wir Trésor, wo er die Geschichte seiner Flucht erzählt und das Projekt bekannt macht: «Das Watch the Med Alarmphone ist ein konkretes Projekt, wir sind auf solche angewiesen.»

Vom Lager ins Gefängnis in den Wald

Trésor, der Nachnamen und Alter nicht verraten will, lebt in einem Flüchtlingslager in Berlin und plant mit der selbst gegründeten Organisation Voix des Migrants Veranstaltungen und Demonstrationen in ganz Europa. Er hilft bei der Vernetzung von Flüchtlingen arbeitet mit verschiedenen sozialen Netzwerken.

Zehn Jahre war Trésor auf seiner Reise von Kamerun nach Europa unterwegs. Er flüchtete aus Angst, sagt er: «Boko Haram ist im Nachbarland Nigeria auf dem Vormarsch, Schwule werden ermordet. Ich wäre sehr gerne in Kamerun geblieben.» Er sass in Gefängnissen und Lagern, über ein Jahr lebte er im Wald Gourougou vor der spanischen Enklave Melilla in Marokko. Dort – vor den Zäunen Melillas – würden alle nur auf den richtigen Moment «to jump» warten, sagt er. Am Ende seiner Flucht demonstrierte er gegen die Abschaffung der Seenotrettungsoperation «Mare Nostrum» in Rom.

Wenn Trésor von seinem Leben auf der Flucht spricht, unterbricht er die Erzählung mit eindringlichen Fragen: «Weisst du, dass die spanische Polizei Flüchtlinge so verprügelt, dass sie bleibend behindert sind? Weisst du, dass Menschen ohne Grund verhaftet werden?»

Via Skype gibt Trésor immer wieder psychologische Hilfe und vermittelt AnwältInnen an Betroffene. Woher kommt die Energie, diese Arbeit zu leisten? «Für mich ist das eine Art Therapie», sagt er. «Ich habe viele Freunde verloren. Wenn ich daran denke, treibt mich das an.» Die Flucht habe ihn zum politischen Menschen gemacht. Er wisse, dass er ein Opfer unter vielen sei, aber er habe lernen wollen, die Zusammenhänge zu verstehen. Es sei ihm unangenehm, für so viele andere zu sprechen: «Aber ich muss, weil ich es kann. Viele haben die Kraft nicht.»

Nach fünf Jahren auf der Flucht sei ihm einiges klar geworden: «Ich begann, den ganzen Shit zu verstehen. Sie stecken uns in Lager, um uns mundtot zu machen. Viele haben Angst zu reden.»

«Das sind Mörder»

Trésor hält sich mit Anklagen nicht zurück: «Die ganze Menschenrechtskonvention ist lächerlich. Das Recht auf Bewegungsfreiheit, Artikel 13, existiert nicht.» Weil er glaubt, dass sich die Politik vor der Verantwortung drückt, ist seine Kritik hart und direkt: «Politiker, die in Kauf nehmen, dass Menschen an den Grenzen sterben, sind für mich Mörder.» Er verstehe bis jetzt nicht, warum Italien kein Geld mehr für «Mare Nostrum» gebe. 80 000 Flüchtlinge hat die Marineoperation bis Ende August 2014 vor der italienischen Küste gerettet. Danach wurde sie durch die Operation «Triton» der Grenzschutzagentur Frontex ersetzt. Diese sucht, anders als «Mare Nostrum», nicht mehr aktiv nach Flüchtlingsbooten. «Wenn die Politik kein Geld hat, um Menschenleben zu retten, wofür dann?»

Trésor kritisiert heute nicht mehr nur die Grenzwachen, sondern das ganze kapitalistische System. Seine Sichtweise hat sich geändert. «In Kamerun sagte man, die Politik sei für Politiker, nicht für das Volk. Heute sehe ich das anders.»

In der Schweiz bekam er als Dank für seine Bemühungen einmal Schweizer Schokolade. «Die esse ich aber nicht», sagt er, «weil es wegen des Kakaohandels Konflikte in Côte d’Ivoire gibt.» Mit der Schweiz hat Trésor ohnehin ein wenig Mühe. Alles gehe so langsam, und die Flüchtlinge seien schlecht vernetzt. Aber er ist froh, dass er durch das Alarmphone auch in der Schweiz Freunde gefunden hat. Er spüre, sagt er, dass sich etwas bewege.

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